Tigermädchen. Delia Muñoz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Delia Muñoz
Издательство: Bookwire
Серия: Tigermädchen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748557203
Скачать книгу
nervös ihre pinke Haarsträhne um ihren Finger, ständig ließ sie den Blick über die Umgebung gleiten, für den Fall, dass jemand sie beobachtete oder angreifen wollte. Sie fühlte sich ganz und gar nicht mehr sicher im Camp Cataara.

      „Hast du den Brief?“ Jack war nicht minder angespannt als Melanie und stellte ihr schon zum zweiten Mal dieselbe Frage.

      Melanie nickte und zog ihn aus ihrer Tasche, wo sie ihn verstaut hatte. Der Brief sah immer noch genau gleich aus, nur dass die Ecken ein wenig abgeknickt waren. Melanie strich sie beschämt glatt und reichte den Brief dann Jack, um ihn zu beruhigen. Er nahm ihn in die Hand und überflog wieder die Zeilen, ohne jedoch das Tempo zu verlangsamen. Die Gruppe eilte über den Hof zu Johns Büro, als sei eine Horde Zombies hinter ihnen her.

      Die Tür war angelehnt, aber dennoch klopfte Emma zaghaft an, bevor sie eintraten. Der Direktor des Gebäudes 3.1 saß an seinem Schreibtisch, der mit Papierkram vollgestapelt war. Das Büro war Melanie mittlerweile bekannt und bot gerade genug Platz, dass die Teenager und John sich drinnen bewegen konnten. Die Neun standen etwas unschlüssig im Raum herum und warteten darauf, dass jemand das Wort ergriff.

      John sah von seinem Schreibtisch auf und hob erstaunt die Augenbrauen, als er die neun Teenager in seinem Büro stehen sah.

      „Was ist denn passiert?“, fragte er mit einem amüsierten Unterton. „Habt ihr ein Zimmer abgefackelt?“

      Melanies Mundwinkel hoben sich, aber sie schüttelte den Kopf. Es war viel schlimmer.

      „Wir haben Post bekommen“, ergriff sie das Wort, als keiner etwas sagen zu wollen schien. „Von Laura. Aber…“ Sie wandte sich suchend an Zoé, die den Brief in der Hand hielt – sie hatte ihn zuvor Jack abgenommen.

      Zoé verstand den Wink und hielt ihn John hin. „Du solltest das mal lesen.“

      John wurde augenblicklich ernst und nahm den Brief entgegen. Während er las, wechselte seine Miene von ernst zu schockiert. Seine Gesichtszüge entgleisten und sein Blick wurde starr. „Und… seid ihr sicher, dass er von Laura stammt?“, fragte er eindringlich, als er zu Ende gelesen hatte. Er klang so ernst wie noch nie zuvor.

      Caroline nickte. „Hundertprozentig ihre Handschrift.“

      John las den Brief erneut durch. „Sie hat versteckte Botschaften eingebaut“, murmelte er und runzelte nachdenklich die Stirn.

      Emma trat einen Schritt vor und deutete auf die letzte Zeile in der Botschaft. „Meinst du das?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort: „Ich denke nicht, dass diese Botschaft groß versteckt ist.“ Emma deutete auf das Briefende. „Eher die hier unten ist wichtig. Das bedeutet, dass Laura noch mehr über diesen Handel weiß, als sie sagen kann.“ Sie sprach sicher, sie glaubte, was sie sagte und sie hatte auch Recht. Erstaunlicherweise jedoch klang es ganz und gar nicht besserwisserisch, es war bloß eine Bemerkung.

      John sah Emma mit einem leichten Lächeln auf den Lippen an. „Stimmt.

      Wie gut, dass ich nicht versuche zu denken, sondern zu handeln.“ Emma lachte verlegen auf, sagte aber nichts.

      John grinste, dann deutete er auf die Stühle, die im Raum verteilt herumstanden. „Setzt euch doch. Das müssen wir besprechen.“

      Die Neun taten wie ihnen geheißen und John schloss die Tür ab. Die Situation wurde ernst.

      „Wann habt ihr den Brief bekommen?“

      „Gerade vor zehn Minuten, wir sind sofort zu dir gekommen“, antwortete Daniel. Melanie versuchte sich immer noch daran zu gewöhnen, dass hier alle Lehrer geduzt werden.

      „Und er hat sich in der Zeit nicht verändert, nehme ich an?“

      Daniel schüttelte den Kopf, ebenso wie Emma und Emanuel.

      „Und wer weiß sonst noch davon?“

      „Niemand…?“, Daniel sah fragend zu den anderen, die die Köpfe schüttelten.

      John nickte und kratzte sich nachdenklich an der Glatze. „Wir müssen sie befreien. Wir haben einen neuen Fall.“

      Er schaute von links nach rechts alle im Raum gründlich an. „Wenn ihr als Team – und mit meiner Hilfe – die Sache angeht, dann reicht das vorläufig, oder? Ihr seid ein guter Haufen.“ John deutete ein Lächeln an und wartete auf eine Antwort.

      Einer nach dem anderen nickte. Was genau meinte er damit?

      Auf Johns Miene trat ein zufriedener Ausdruck und er fixierte auf einmal Melanie, die ganz rechts auf einem der Plastikstühle saß.

      „Melanie…“, begann er direkt.

      Das Mädchen zuckte leicht zusammen. „Ja?“

      „Du bist eine gute Nahkämpferin. Woher kommt das? Die anderen haben hier schon trainiert und du nicht.“

      Melanies Atem stockte leicht. John hielt sich nie mit vielen Worten auf, aber diese Frage lag haargenau auf der Grenze zu ihrer Privatsphäre. „Ich habe in Kursen trainiert“, sagte sie knapp. „Das weißt du doch.“ Sie hatte nicht so schnippisch klingen wollen, aber das war ihre Abwehr persönlichen Fragen gegenüber.

      Im Gegensatz zu Daniel, der ihr von der Seite her einen intensiven Blick zuwarf, war John entweder an schnippische Antworten gewöhnt oder er hatte den Unterton nicht bemerkt, denn er hakte weiter nach. „Das weiß ich. Aber wieso hast du diese Kurse überhaupt belegt?“

      Melanies Herz begann, schneller zu schlagen. Die Kurse hatte sie absolviert, weil sie mit 13 Jahren vergewaltigt wurde, weil sie nie wieder wollte, dass jemand sie auf diese Weise anfassen, sie derart demütigen konnte. Sie bemerkte panisch, dass sie nahe dran war zu weinen. Hastig starrte an die Decke und biss die Zähne zusammen. Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals und ihre Augen wurden feucht. Sie schluckte. Sie wollte und konnte nicht an ihre Vergewaltigung denken.

      „Das haben mich meine Eltern auch gefragt“, antwortete sie, ohne John anzusehen, und musterte stattdessen einen dunklen Fleck auf der ansonsten sauber gestrichenen Decke.

      Jack zu ihrer Rechten lachte, und löste somit die angespannte Stimmung auf.

      „Also, wir gehen dem Fall nach, oder?“, fragte Daniel und zog die Aufmerksamkeit Johns auf sich. Melanie klammerte sich erleichtert an ihren Hoodie und versuchte, den Gedanken an ihre Vergewaltigung zu verdrängen. Laura, denk an Laura!

      „Genau“, bestätigte dieser. „Und morgen zeigen wir es Anthony und ich werde ihn darum bitten, uns Zeit und Material zur Verfügung zu stellen.“

      „Denkst du, das tut er?“, fragte Caroline verunsichert. Ramón stand neben ihr und sein Arm lag um ihre Schultern.

      John zuckte resigniert die Schultern. „Ich habe keine Ahnung. Aber heute ist er bis abends bei einer Sitzung und wenn ich ihn danach noch frage, bin ich sicher, dass er es nicht tut.“ Offenbar war dieser Anthony ein richtiger Arsch.

      John erhob sich und gab Zoé den Brief zurück. „Wir treffen uns morgen um acht Uhr hier. Ich regle das mit den Lehrern.“

      Melanie schlief schlecht in dieser Nacht. Nicht, weil sie wenig schlief – das tat sie immer – sondern weil sie immerzu an Laura denken musste. Zwar wusste sie nicht, wie es war, wenn es dunkel war, aber genau das Unbekannte machte ihr solche Angst. Als sie schon mindestens zehn Varianten zu liegen erfolglos ausprobiert hatte, stand sie auf und schlich sich aus dem Haus, um frische Luft zu schnappen. Laut ihrem Wecker, der nun fünf Uhr anzeigte, hatte sie zusammengezählt immerhin drei Stunden schlafen können, allzu schlimm war das also nicht.

      Melanies Schritte führten sie zu einer Bank, fünf Minuten vom Campus entfernt. Sie lauschte der Stille, als sie auf einmal eine Männerstimme summen hörte. Überrascht blieb sie stehen und spitzte die Ohren. Es war eine raue, tiefe Stimme, gar nicht mal so schlecht. Sie folgte dem Klang, der von der Bank herkam. Neugierig beschleunigte sie ihre Schritte – wer mochte hier wohl singen? Als sie näher kam, sah sie, dass dort schon jemand saß. Jack.

      „Oh“, sagte sie, etwas überrumpelt. „Hallo