Tigermädchen. Delia Muñoz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Delia Muñoz
Издательство: Bookwire
Серия: Tigermädchen
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748557203
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„Und ...?“, hakte sie nach.

      „Und was?“

      „Wann bist du ins Land der Nacht gekommen?“

      „Weiß ich nicht so genau“, erwiderte Emma scharf, offenbar fest entschlossen, es ihrer Mitbewohnerin nicht zu sagen.

      Melanie runzelte verärgert die Stirn. Was war so schwierig daran, einfach ein Alter zu nennen? Sie wollte ja nicht das Datum und die Uhrzeit wissen. „Natürlich weißt du das“, erwiderte sie gereizt.

      „Wieso willst du das wissen?!“, fauchte Emma sie an.

      „Aus Interesse?“, meinte Melanie nun auch etwas lauter.

      „Das spielt überhaupt keine Rolle. Ich bin einfach schon eine Weile hier!“, rief sie aufgebracht. Sie rieb sich die Stirn und begann hektisch, sich zu schminken.

      „Auf die Idee wär ich jetzt nie gekommen!“, entgegnete Melanie mit verärgert erhobener Stimme. „Gib doch einfach eine Antwort! Wie alt warst du? Ist das so eine schwierige Frage?“ Wenn sie wütend wurde, wurde sie zickig, das stand fest.

      „Nein!“, schrie Emma sie an und Melanie zuckte zusammen.

      „Wieso?“, rief Melanie zurück. Wütend über Emmas Sturheit nahm sie die Mascara in die Hand und trug sie ohne Spiegel auf.

      „Weil es dich nichts angeht! Das kann dir doch vollkommen egal sein!“

      „Es war ja nur eine Frage!“

      „Schön!“, schnaubte Emma und wandte sich ab, bereit, zum Frühstück zu gehen.

      Melanie starrte sie einen Moment lang bloß verblüfft an, bevor sie sich einen Ruck gab und Emma die Treppe herunterfolgte. Trotzig setzte sie sich neben Zoé, um nicht neben ihrer Zimmergenossin sitzen zu müssen; aber sie warfen einander während dem Frühstück dennoch giftige Blicke zu. Die angespannte Stimmung zwischen den beiden schien aber glücklicherweise außer Caroline niemandem aufgefallen zu sein. Diese jedoch warf Melanie einen fragenden Blick zu und zog die Augenbrauen hoch. Melanie runzelte verwirrt die Stirn und wich ihrem Blick aus. Sie hatte nun keine Lust, über den Streit nachzudenken. Das war alles zu komisch.

      Die neun waren auf dem Weg zu John, den sie um acht Uhr trafen, um Anthony zu benachrichtigen.

      Der Leiter wartete schon. Er schaute ernst in ihre Richtung, während sie, alle nebeneinander, auf ihn zukamen. Wie immer hielt er sich nicht mit Smalltalk auf, sondern drehte sich wortlos um und bedeutete ihnen mit einem Wink aus dem Handgelenk, ihm zu folgen. Er ging zügig über den Platz, wohlwissend, dass seine Schüler hinter ihm waren.

      Anthony wohnte im Gebäude 1.1 im ersten Stock. John klopfte dreimal kräftig an die Tür und wartete, bis ihm geöffnet wurde. Melanie stellte sich nervös hinter Daniel. Sie hatte Anthony noch nie getroffen, jedoch genug über ihn gehört, dass sie die erste Begegnung ruhig noch etwas hinausgezögert hätte. Ihr Magen krampfte sich zusammen, als die Tür aufging und ein schlaksiger Mann im Türrahmen erschien. Mit einem leicht überheblichen Blick sah er auf John herab und sagte: „John. Schön, dich zu sehen.“

      Melanie wäre beinahe in Lachen ausgebrochen, so wenig sah Anthony danach aus, dass er sich freute.

      „Anthony. Unter anderen Umständen ganz meinerseits.“ Er nickte ins Büro hinter Anthony. „Können wir rein?“

      Anthony hob sachte überrascht die Augenbraue. „Alle?“ „Alle“, bestätigte John.

      Anthony seufzte. „Na gut. Kommt rein.“

      Die neun Teenager und John zwängten sich in das schlicht eingerichtete Büro und warteten wieder einmal darauf, dass jemand das Wort ergriff. Melanie spähte über Sams Schulter auf den Schreibtisch und inspizierte das Fenster nebenan. Von dem Schreibtisch und dem Fenster abgesehen gab es nur noch einen Schrank, drei Stühle und einen Papierkorb zu sehen. Nichts, was sehr praktisch in einem Kampf war, dachte Melanie, die sich stets vorstellte, wie sie notfalls aus einem Zimmer fliehen konnte.

      Diesmal war es John, der zuerst sprach. „Gestern kamen Daniel, Emanuel, Jack, Ramón, Sam, Zoé, Caroline, Emma und Melanie zu mir, um mir das hier zu zeigen.“ Das hier bezog sich auf den Brief, den Zoé John nun zusteckte und John an Anthony weiterreichte.

      „Und das hier ist ...?“

      „Ein Brief von Laura. Lies die Notiz am Briefende. Sie ist in Gefahr“, erklärte John.

      Anthony nahm den Brief in die Hand. Er öffnete ihn desinteressiert und zerknitterte dabei eine Ecke. Dann schaute er den Brief an.

      Und begann tatsächlich zu lachen. Er schüttelte sich vor Lachen und lachte und lachte einfach weiter.

      Melanie hatte ja gedacht, dass er nicht besonders nett war, aber das hatte sie nun wirklich nicht erwartet. Daran war beim besten Willen nichts Lustiges zu finden! Auch John schaute Anthony entsetzt an und mit der Zeit schien dieser zu bemerken, dass es außer ihm keiner komisch fand. Er verstummte schlagartig.

      „John! Was soll das?“, fragte er, wieder ernst, jedoch aufgebracht.

      „Anthony! Jetzt reiß dich zusammen!“ John schnappte sich wutentbrannt den Brief, um vorzulesen, was Laura geschrieben hatte.

      Doch er starrte nur auf das Papier und langsam klappte sein Unterkiefer herunter.

      Stille herrschte, alle Augen im Raum waren auf John gerichtet, der den Blick nicht vom Brief wenden konnte und immer perplexer wurde.

      Der Schock der Anwesenden war beinahe mit den Händen zu fassen.

      „Was ist denn?“, wollte Emma schlussendlich wissen.

      „Die Nachricht. Sie ist ... weg.“

      5 DAS ELFTE GEBOT

      Melanie und ihre Freunde standen im Halbkreis um John herum und schwiegen.

      Anthony hatte John kein Wort geglaubt und die zehn hochkant aus dem Büro geschmissen, mit dem Verbot, diesem „Fall“ nachzugehen. Nun standen sie keine zwanzig Schritte vor Anthonys Büro und starrten ratlos Löcher in die Luft. Alle waren wütend, nicht auf John oder den Brief, sondern allein auf Anthony, der nicht einmal einem Lehrer die Geschichte glauben wollte.

      John öffnete den Mund, wollte etwas sagen, doch er wusste nicht was, also schloss er ihn wieder.

      „Kann ich den Brief mal haben?“, fragte Emma zaghaft und rieb sich nachdenklich die Schläfe.

      „Natürlich.“ John reichte ihn ihr, seine Stimme war gebrochen.

      Emma beäugte das Papier konzentriert und drehte es mehrmals in den Händen. Melanie schaute ihr gespannt zu, während sie überlegte, wie sie trotz Anthonys Verbot und Johns Aufsicht Laura retten konnten. Sie würde auf keinen Fall ein Mädchen in einem Keller eingesperrt lassen, bloß weil irgendein hochgewachsener Wichtigtuer ihnen untersagte, es zu retten. Mit einem Mal war ihre Wut auf Emma verschwunden, es gab nun wichtigere Sachen zu klären als ihre Vergangenheit: Wie löste man einen Fall, ohne von den eigenen Leuten entdeckt zu werden? Wie fand man bloß mit einem Brief und einer Nummer Laura wieder? Wenn man auch noch bedachte, dass sie nicht einmal mehr den vollständigen Brief besaßen?

      „John!“, stieß Emma in diesem Moment keuchend hervor. „Laura hat das Blatt verhext. Diesen Zauber konnte sie besonders gut.“

      Alle Augen richteten sich auf sie, als sie leicht verunsichert ihre Erklärung fortsetzte: „Nach einem Tag löscht sich die Nachricht von selbst, damit sie nicht in falsche Hände gerät.“

      John stöhnte und rang die Hände. Er sah müde aus, müder als Jack, der neben Melanie stand. „Mist. Das war klug von Laura.“

      John schaute hoch und als Melanie in seine Augen blickte, war jegliche Gebrochenheit weg und hatte dem Kampfgeist Platz gemacht.

      „Wir werden nach dem elften Gebot vorgehen“, erklärte er auf