Laura biss sich nachdenklich auf die Lippen und stellte sich vor, wie sie wohl auf die pinke Naht auf den Hosenbeinseiten reagieren würde. Hoffentlich gefiel es ihr. Es gab nichts Peinlicheres, als wenn man einen Auftrag noch verschlimmerte. Jetzt war sie wieder oben angekommen und vernähte von Hand den Faden, bevor sie ihn abschnitt und die Hose in die Hand nahm. Prüfend hielt sie sie hoch und ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. Bisher war sie perfekt. Die Jeans war schön, das war sie schon immer gewesen – bloß zu lang. Und zu einfarbig.
Das Licht, das durch das Fenster in die WG fiel, ließ die Jeans von hinten leuchten und erhellte das Zimmer in schönen Farben. Der Raum war ohnehin schön aufgeräumt und schon gut eingerichtet, obwohl Laura nicht allzu lange hier bleiben würde. Sie legte die Jeans mit neuem Elan auf die Nähmaschine und nahm sich das andere Hosenbein vor. Die Nadel stach ein und sie drückte auf das Pedal. Von einem leisen Surren begleitet, arbeitete sich die Nadel vorwärts und Laura schob geduldig die Hose nach, Stück für Stück, und achtete darauf, dass sie gerade blieb und nichts verrutschte. Um sie herum herrschte Stille, von draußen waren gedämpft Gespräche zu hören und irgendwo heulte ein Tier, wahrscheinlich ein Wolf. Das war nicht weiter seltsam hier im Land der Nacht, zumal sich Laura ebenfalls in ein beliebiges Säugetier verwandeln konnte. Das konnte sie täglich für eine Stunde, am liebsten nahm sie eine Wolfgestalt an. Aber vor Kurzem hatte sie zum Spaß auch einen Tiger ausprobiert, grundsätzlich mochte sie große Raubtiere. Was aber nicht immer gleich war, war die momentane Stille in der WG. Es war schon kurz nach Mittag und kaum Lärm zu hören. Häufig bekamen die anderen jedoch Besuch oder ließen laut Musik laufen, dies auch bis zum Abend. Besonders Ariana, eine ihrer Mitbewohnerinnen, hatte immer irgendjemanden dabei. Doch Laura störte das nicht besonders, sie mochte andere Leute und fand es okay, wenn manchmal Musik lief. Hauptsache, sie hatte ihre Ruhe beim Nähen.
Laura hob eilig den Fuß vom Pedal, als sie merkte, dass sie beinahe am Ende angekommen war. Langsamer steuerte sie auf das Hosenbeinende zu, dank ihres Zaubers war sie flink wieder oben angekommen und je näher sie dem Ende kam, desto glücklicher wurde sie. Ein Werk zu beenden war immer ein tolles Gefühl und wenn sie daran dachte, für wen es bestimmt war, freute es sie noch mehr.
Eine Sekunde, nachdem sie die fertige Jeans in Schrank packte und die Nähmaschine verstaute, klopfte es an ihrer Tür. Erstaunt und etwas erschrocken sah sie hoch und starrte das helle Holz eine Weile lang an. Sie hatte niemanden eingeladen und alle anderen Besucher wussten für gewöhnlich, wo sie hinmussten. Keiner klopfte einfach so an, denn die anderen Bewohner kamen ungefragt hinein. Kopfschüttelnd schloss Laura die Schublade, in der ihre Nähmaschine war. Bestimmt hatte sie sich verhört oder jemand hatte aus Versehen geklopft. Gerade als sich Laura wieder ihrem Schreibtisch zuwenden wollte, klopfte es erneut, nun drei Mal und kräftiger als zuvor. Laura zuckte zusammen. Mit klopfendem Herzen stand sie auf und ging langsam zur Tür.
Das ist doch bestimmt kein Massenmörder, schalt sie sich selbst in Gedanken. Wahrscheinlich kam sie bloß jemand besuchen. Dennoch zitterte ihre Hand, als sie die Tür öffnete.
Morgen hab ich Schule!
Melanie lag wach im Bett und starrte aufgeregt an die Decke. Das Wochenende war wie im Flug vergangen und sie hatte sich schon ein wenig an das Camp gewöhnt. Doch am Montag würde die Schule beginnen und Melanie hatte keine Ahnung, was sie erwartete. Das Wochenende über hatte sie brav Spanisch gebüffelt, aber sie wusste nicht, wie streng hier bewertet wurde. Am meisten spukte ihr der Kampfunterricht am nächsten Tag durch den Kopf. Sie freute sich einerseits darauf, andererseits wusste sie auch da nicht, ob sie den anderen total unterlegen war. Sie drehte sich unruhig auf die andere Seite. Schlafen konnte sie schon lange nicht mehr; es war bereits drei Uhr morgens. Doch plötzlich drehte sich Emma, die bisher friedlich in ihrem Bett geschlummert hatte, unruhig hin und her und gab ängstliche Laute von sich.
Melanie schlug mit gerunzelter Stirn die Decke zurück und tapste zu ihrem Bett hinüber. Emma hatte das Gesicht verzogen, als hätte sie vor irgendetwas Angst. Krampfhaft hielt sie ihre Decke in der Hand und stieß erneut ein wimmerndes Geräusch hervor. Ihr Atem ging viel zu schnell und Melanie meinte fast, ihre Augen unter ihren Lidern rotieren zu sehen.
„Emma!“ Melanie rüttelte sie vorsichtig an der Schulter. „Emma, aufwachen!“
Emma schreckte keuchend hoch. „Melanie?“ Sie schaute verwirrt drein und strich sich passiv die Haare in die Stirn. Ihre Decke war ihr bis zur Hüfte hinuntergerutscht, und ihre Haare waren ganz zerzaust und völlig schweißgebadet.
„Was hast du denn?“ Melanie setzte sich besorgt auf das Bett ihrer Freundin. Die Situation kam ihr aus eigener Erfahrung schmerzlich bekannt vor.
Emma zögerte. „Nichts. Wieso?“ Sie fuhr sich mit der Hand übers Gesicht und atmete viel zu hastig, als sei sie eine lange Strecke gerannt.
Lüg besser, ehrlich.
„Du hattest einen Albtraum, glaube ich“, erwiderte Melanie mit einem leicht fragenden Unterton.
„Nein ... Ich meine, kann sein ... Ich kann mich nicht mehr erinnern“, behauptete sie leichthin und spielte hektisch mit der Bettdecke.
„Wenn du meinst“, murmelte Melanie und stand zögerlich wieder auf. Sie wollte sie nicht drängen und Emma atmete schon wieder normal. Sie wirkte nicht mehr so verängstigt, bloß verwirrt und verschlafen.
„Habe ich dich geweckt?“, wollte Emma jetzt schuldbewusst wissen.
„Nein, ich war schon wach.“ Aus den Augenwinkeln sah sie Emma erleichtert nicken, dann schlüpfte Melanie unter ihre Decke und legte sich wieder hin. Doch statt zu schlafen, grübelte sie über Emma nach. Diese hatte sich auch wieder hingelegt und versuchte wohl, wieder einzuschlafen. Aus irgendeinem Grund glaubte Melanie ihr nicht, dass sie sich nicht mehr an den Traum erinnern konnte. Irgendetwas verbarg sie vor ihr. Und zwar ziemlich schlecht. Doch auch sie hatte Geheimnisse und so konnte sie nicht von Emma erwarten, dass sie ihr gleich alles erzählte. Mit der Zeit würden sie schon mehr Vertrauen aufbauen.
Irgendwann musste Melanie wohl doch noch eingeschlafen sein, denn plötzlich klingelte der Wecker und sie schreckte abrupt aus dem Schlaf hoch.
Sie setzte sich auf und stellte genervt den Wecker ab. Sonnenlicht flutete das Zimmer und ließ Staubkörner in der Luft sichtbar werden. Entfernt nahm Melanie das Rauschen des Meeres und die leisen Stimmen von Schülern, die sich etwas zuriefen, wahr. Sie musste unbedingt mal das Meer anschauen gehen. Nicht, um zu schwimmen und unterzugehen, sondern weil sie in ihrem Leben erst zwei Mal am Meer gewesen war.
Neben Melanie schlug Emma verschlafen die Decke zurück und rieb sich die Augen. „Schon Morgen?“
Melanie nickte. „Und Schule“, fiel es ihr schlagartig wieder ein und sie sprang aus dem Bett. Während sie hektisch ihren Kleiderschrank nach passenden Kleidern durchwühlte, stand Emma in aller Ruhe auf und schlenderte ins Bad. Doch Melanie war viel zu aufgeregt, um sich zu entspannen. Sie hatte Schulwechsel noch nie gemocht und war nun dementsprechend nervös. Ihre Hände zitterten so stark, als sie sich ihre Augen schwarz schminkte, dass sie daneben malte. Emma hielt ihr hilfsbereit ein Abschminktuch hin und Melanie nahm es leicht errötend an. Als auch Emma sich vor den Spiegel stellte und ihre Lippen in einem dezenten Rosa färbte, kam ihr eine Idee.
„Emma, schmink doch deine Augen auffällig, die gefallen ja Emanuel“, schlug sie vor.
Emma ließ vor Schreck beinahe