Den Arm ein bei Sewastopol.
Ich bin allerdings nicht bei Sewastopol gewesen und bin auch nicht einmal einarmig; aber was sagen Sie zu den Versen?« Dabei kam mir der Betrunkene mit seinem übelriechenden Gesichte näher.
»Der Herr hat keine Zeit, keine Zeit; er muß nach Hause gehen,« redete ihm Liputin zu. »Er wird morgen alles Lisaweta Nikolajewna wiedererzählen.«
»Lisaweta! ...« heulte er wieder. »Halt! Gehen Sie nicht weg! ... Noch ein andres Gedicht:
Vergleichbar dem leuchtenden Sterne,
Jagt die Reit'rin einher wie der Wind;
Es grüßt mich mit Lächeln von ferne
Das aristokratische Kind.
An die sterngleiche Reiterin.«
Ja, sehen Sie wohl, das ist ein Hymnus! Das ist ein Hymnus, wenn Sie kein Esel sind! Die Tagediebe, die haben kein Verständnis dafür! »Halt!« schrie er und klammerte sich an meinen Paletot fest, obwohl ich mich mit aller Kraft durch das Pförtchen drängte. »Bestellen Sie ihr, daß ich ein Ritter bin, der Ehre im Leibe hat; und Dascha ... diese Dascha werde ich mit zwei Fingern ... Diese leibeigene Magd wird nicht wagen ...«
Hier fiel er hin, weil ich mich mit Gewalt aus seinen Händen riß und auf die Straße lief. Liputin folgte mir dorthin.
»Alexei Nilowitsch wird ihn schon aufheben. Wissen Sie, was ich soeben von ihm erfahren habe?« schwatzte er eifrig. »Haben Sie die Verse gehört? Nun, diese selben Verse an die ›sterngleiche Reiterin‹ hat er drucken lassen und wird sie morgen mit seiner vollen Namensunterschrift an Lisaweta Nikolajewna schicken. Was sagen Sie zu einem solchen Menschen?«
»Ich möchte darauf wetten, daß Sie selbst ihn dazu veranlaßt haben.«
»Sie werden die Wette verlieren!« versetzte Liputin lachend. »Er ist verliebt, verliebt wie ein Kater, und wissen Sie wohl, daß die Geschichte mit Haß begonnen hat? Er hat Lisaweta Nikolajewna anfangs wegen ihres Reitens dermaßen gehaßt, daß er beinahe auf der Straße laut auf sie geschimpft hat; und er hat es auch wirklich getan! Noch vorgestern hat er auf sie geschimpft, als sie vorbeiritt; zum Glück hörte sie es nicht. Und nun auf einmal heute Verse! Wissen Sie wohl, daß er es wagen will, ihr einen Antrag zu machen? Im Ernst, im Ernst!«
»Ich muß mich über Sie wundern, Liputin; überall, wo solch ekelhaftes Treiben stattfindet, überall sind Sie der Anführer!« rief ich zornig.
»Da übertreiben Sie doch, Herr G***w! Hat Ihnen nicht das Herzchen gepuckert aus Angst vor dem Nebenbuhler? Wie?«
»Waaas?« rief ich, stehen bleibend.
»Sehen Sie, nun werde ich Ihnen zur Strafe auch nichts weiter sagen! Und wie gern würden Sie es hören! Schon allein das, daß dieser Dummkopf jetzt kein einfacher Hauptmann ist, sondern ein Gutsbesitzer unseres Gouvernements, und noch dazu ein ziemlich bedeutender, da Nikolai Wsewolodowitsch ihm sein ganzes Gut, seine früheren zweihundert Seelen dieser Tage verkauft hat, und Gott straf mich, ich lüge Ihnen nichts vor. Ich habe es eben erst erfahren, aber dafür aus ganz zuverlässiger Quelle. Na, jetzt tasten Sie sich nur selbst mit Ihrem Spürsinn weiter; mehr werde ich Ihnen nicht sagen. Auf Wiedersehen!«
X.
Stepan Trofimowitsch erwartete mich in krampfhafter Aufregung. Er war schon vor einer Stunde zurückgekehrt. Als ich ihn sah, machte er den Eindruck eines Betrunkenen; wenigstens glaubte ich die ersten fünf Minuten lang, daß er betrunken sei. Der Besuch bei Drosdows hatte ihn leider vollkommen wirr im Kopfe gemacht.
»Mon ami, ich habe jetzt den Faden des Zusammenhanges ganz und gar verloren ... Was Lisa angeht, so liebe und verehre ich diesen Engel wie früher, ganz wie früher; aber es scheint mir, daß die beiden Damen mich nur erwartet haben, um etwas zu erfahren, das heißt, um einfach irgend etwas aus mir herauszuholen und mich dann meiner Wege zu schicken ... So steht es.«
»Schämen Sie sich!« rief ich, nicht imstande, mich zu beherrschen.
»Mein Freund, ich stehe jetzt vollständig allein da. Enfin c'est ridicule. Denken Sie nur: auch dort ist alles mit Geheimnissen vollgepfropft. Sie stürzten auf mich los und verlangten Auskunft über diese Nasenund Ohrengeschichten und über einige Petersburger Geheimnisse. Sie hatten beide erst hier zum erstenmal von den Tollheiten gehört, die Nikolai hier vor vier Jahren angegeben hat; ›Sie sind ja hier gewesen; Sie haben es miterlebt,‹ sagten sie; ›ist es wahr, daß er verrückt ist?‹ Und wie sie auf diese Idee gekommen sind, das ist mir unbegreiflich. Warum will Praskowja durchaus, daß Nikolai sich als Verrückter herausstellt? Und das will dieses Weib, das will sie! Ce Maurice oder, wie sie ihn nennen, Mawriki Nikolajewitsch, ist ein brave homme tout de même; aber sollte sie das wirklich in seinem Interesse wünschen, und nachdem sie selbst zuerst aus Paris an cette pauvre amie jenen Brief geschrieben hat? ... Enfin, diese Praskowja, wie sie von cette chère amie genannt wird, ist ein Typus; sie ist Gogols Frau Korobotschka[16], und zwar in außerordentlich vergrößertem Maßstabe.«
»Nun, wenn sie es in vergrößertem Maßstabe ist, dann kommt wohl eine gehörige Schachtel heraus?«
»Na oder in verkleinertem Maßstabe; das ist ganz gleichgültig; unterbrechen Sie mich nur nicht; mir ist der Kopf sowieso schon ganz wirbelig. Dort haben sich die Weiber vollständig verzankt; außer Lisa, die immer noch ›Tantchen, Tantchen‹ sagt; aber Lisa ist schlau, und da steckt noch etwas anderes dahinter. Geheimnisse. Aber mit der Alten hat es einen großen Zank gegeben. Cette pauvre Tante tyrannisiert allerdings alle schrecklich. Aber da ist nun die Frau Gouverneur, und die Respektlosigkeit der Gesellschaft, und die Respektlosigkeit Karmasinows; und dazu nun noch auf einmal die Idee, Nikolai sei vielleicht geistesgestört, und ce Lipoutine, ce que je ne comprends pas ... und es heißt, sie habe sich Essigumschläge um den Kopf gemacht, und dann noch Sie und ich mit unseren Klagen und mit unseren Briefen ... Oh, wie habe ich sie gequält, gerade in einer solchen Zeit! Je suis un ingrat! Denken Sie sich: ich komme zurück und finde einen Brief von ihr vor; lesen Sie ihn, lesen Sie ihn! Oh, wie undankbar habe ich mich benommen!«
Er gab mir den Brief, den er soeben von Warwara Petrowna erhalten hatte. Sie schien ihre schroffe Anweisung vom Vormittage: »Halten Sie sich zu Hause!« zu bereuen. Das Briefchen war höflich, aber doch entschieden und wortkarg. Sie ersuchte Stepan Trofimowitsch, übermorgen, am Sonntage, pünktlich um zwölf Uhr zu ihr zu kommen, und riet ihm, einen seiner Freunde (in Klammern stand meine Name) mitzubringen. Sie versprach, ihrerseits Schatow, als Darja Pawlownas Bruder, hinzuzuziehen. »Sie können von ihr eine endgültige Antwort erhalten; wird Ihnen das genügen? Legen Sie auf diese Formalität solchen Wert?«
»Beachten Sie am Schlusse diese gereizte Redewendung von der Formalität! Arme, arme Freundin meines ganzen Lebens! Ich bekenne, diese plötzliche Entscheidung, die das Schicksal trifft, hat mich niedergedrückt ... Ich bekenne, ich hoffte immer noch; aber jetzt tout est dit; ich weiß jetzt, daß alles zu Ende ist; c'est terrible. O wenn es doch diesen Sonntag gar nicht gäbe, sondern alles wie früher wäre: Sie würden zu mir kommen, und ich würde hier ...«
»Sie haben sich durch all die Gemeinheiten und Klatschereien, die Liputin heute vorgebracht hat, ganz aus dem ruhigen Geleise bringen lassen.«
»Mein Freund, Sie haben soeben mit Ihrem Freundesfinger einen andern wunden Punkt berührt. Diese Freundesfinger sind überhaupt erbarmungslos und manchmal unvernünftig, pardon; aber (werden Sie es glauben?) ich hatte dies alles, diese Gemeinheiten beinah vergessen, das heißt vergessen hatte ich sie durchaus nicht; aber die ganze Zeit über, während ich bei Lisa war, bemühte ich mich in meiner Dummheit, glücklich zu sein, und redete mir ein, daß ich glücklich sei. Aber jetzt ... o jetzt denke ich an diese großmütige, humane, gegen meine häßlichen Mängel so nachsichtige Frau; das heißt, sie ist nicht durchweg nachsichtig gewesen, aber was bin ich auch für