Kandenberg-Alt Schmiede. Johannes Irmscher. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Johannes Irmscher
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754175903
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und er konnte keinen Rückzieher mehr machen. Dafür schauten zu viele zu. Terrier wäre normalerweise nicht zwischen die beiden Streithähne gegangen. Das tat er nur, weil Elif da war und er sie beeindrucken wollte. Mit dem rechten Arm drückte er den kleinen Türsteher weg und mit dem Linken den Partygast. Er spürte wie eine Faust sein Ohr traf. Es tat nicht besonders weh. Das hätte es auch im nüchternen Zustand nicht. Aber Betrunkene mit viel Adrenalin sind quasi unverwundbar. Und wenn die Kraft eines Balzversuches die Muskeln stärkt, lächelt man so eine Faust locker weg.

      Der Terrier hatte an diesem Abend zwar seine Uhr dabei, aber das Zeitgefühl verloren. In seiner Erinnerung kamen die Polizisten allerdings ziemlich schnell. Auch ein Krankenwagen fuhr vor das „Sägewerk“. Die blauen Lichter blendeten ihn und er suchte nach Elif. Die war bereits wieder die Treppe des Clubs hinunter gegangen. Der Terrier stand alleine neben Polizisten vom doppelten Türsteherformat. Er wurde befragt und sollte seine Personalien angegeben. Der blutende, junge Mann wurde mit dem Krankenwagen in das Krankenhaus gefahren. Dann löste sich der Menschenpulk vorm Club auf und die aufgehende Sonne stahl den Blaulichtern die Show. Der Terrier schaute auf seine Uhr. Er stellte fest, dass es an der Zeit war ins Bett zu gehen.

      „Du bumst heute nicht mehr“, sagte er sich.

      Wenn man heimkommt und es schon wieder hell wird, kann das auch ganz schön scheiße sein. Der Tag hat schon begonnen und man selber muss jetzt schlafen gehen. Die zwitschernden Vögel lachen einen aus, weil man allein in Richtung Studentenwohnheim geht.

      Heute würde der Terrier nicht alleine nachhause gehen, das schwor er sich, obwohl er sein Zimmer nicht aufgeräumt hatte.

      Der Terrier ging über die Straße und das Polizeigebäude verschwand aus seinem Blickfeld.

      Die Straße, auf der er jetzt lief, führte lange gerade aus, hinein in die Stadt. Doch zunächst über zwei Brücken. Unter einer der Brücken war ein Flüsschen und unter der anderen der ausgetrocknete Stadtgraben. Die Stadtmauer war nicht mehr erhalten. Die moderneren Häuser wichen Umgebinde- und Fachwerkhäusern. Von, mit schwarzen Fensterläden umrahmten, Glasscheiben reflektierte das Licht der Straßenlaternen und blendete in den Augen des Terriers. Der junge Mann benötigte eigentlich eine Brille. Vorhin beim Zocken hatte er diese auch noch aufgehabt, doch damit feiern gehen wollte er nicht. Den Weg kannte er gut genug, um ihn blind ablaufen zu können. Er war nur zwanzig Kilometer von Kandenberg entfernt aufgewachsen. Mit seinen Eltern war er nicht oft hier gewesen, aber doch schon ab und zu. Kandenberg war auf jeden Fall eine Reise wert. Aber nach einem Wochenende hatte man alles Sehenswerte gesehen. Doch selbst wenn Terrier die Strecke nicht schon auf einem Dreirad abgefahren wäre, hätte er den Weg gefunden. Denn schließlich war das der schnellste Weg in die Altstadt und da es nur dort Möglichkeiten gab auszugehen, war es die Pilgerstrecke durstiger Studenten.

      Der Terrier sah die Umrisse eines Kinderwagens. Er blieb stehen und ließ die Frau passieren. Der Weg war so schon eng und wurde dazu noch von einem E-Roller versperrt. Die Frau lächelte ihn an. Wenn die Gesichter nah waren, erkannte er sie. Probleme hatte er nur bei Sachen auf langer Sicht. Er wollte nicht wissen, wie oft ihn schon der Ruf eines arroganten Sacks angehängt wurde. Terrier, der Nichtzurückgrüßende. Aber was sollte er denn auch machen, wenn er sie einfach nicht sah? Nicht für jeden Menschen haben Bäume Blätter.

      Die hölzernen Stämme am Rand der Straße waren noch überraschend dick angezogen. Der Terrier kniff die Augen zu und meinte sogar einzelne Blüten an den Bäumen zu erkennen. Bunt und Grün waren verschieden. Er machte sich Sorgen, um die Pflanzen. Ein plötzlicher Kälteeinbruch und sie würden hart getroffen werden.

      Die Sonne war schon lange unter gegangen, aber es war immer noch warm. Viel zu warm. Bestimmt um die elf Grad Celsius und das in einer Januarnacht. Der Terrier musste den Reißverschluss seiner Jacke aufmachen. Er versuchte nun das Tempo seiner Schritte zu drosseln, um nicht ins Schwitzen zu geraten.

      Eine Runde Fifa, ein zehnminütiger Spaziergang oder ein Gespräch mit Elif; der Terrier kam immer schnell ins Schwitzen und das, obwohl er sportlich war.

      Auch wenn er nicht wusste, dass Blätter am Baum schön aussahen, war ihm die Natur sehr lieb. Trotzdem konnte er nicht mit dem Rad zur Uni fahren. Denn egal, ob es fünf oder fünfzig Minuten wären; der Terrier würde schwitzen.

      Manchmal wünschte er sich ein Raucher zu sein. Dann hätte er nicht nur einen Grund mit Elif vor die Tür zu gehen, dort, wo bekannterweise die besten Gespräche stattfanden, sondern auch einen Grund, um mal eine Pause einzulegen. Sich mal hinzusetzen. In Kandenberg gab es zwar kaum Rentner, dafür aber viele Sitzmöglichkeiten. Dabei gab es in Deutschland eigentlich immer viel zu wenig Sitzmöglichkeiten gab. Sitzmöglichkeiten und öffentliche Frauentoiletten, daran mangelte es in Deutschland am meisten. Doch das war den Terrier egal, denn er rauchte ja nicht und musste an den Betonblöcken nicht stehen bleiben. Gewürfelte Privilegien aus gezinkten Bechern.

      Hinter den zwei Blöcken, auf deren Kopf jeweils drei Holzleisten eingelassen waren, erhob sich das Kandenberger Stadtmuseum. 2014 wurde es erneuert und dementsprechend hässlich sah es aus.

      Eine überdimensionale Glasfensterwand zog sich quer über zwei Altbauhäuser. Stärkere Disharmonien als beim Kurzhanteltraining des Terriers.

      Die Straße machte dann eine leichte Linkskurve, vorbei an einer Grundschule. Die Rollläden waren natürlich schon nach unten gezogen. Schließlich war der Sandmann schon in den Wohnzimmern gewesen und am Wochenende gehörten die Kinder noch mehr als sonst auf die Spielplätze und nicht auf die Schulbänke. Die Straße kreuzte und Terrier musste an der nächsten roten Ampel warten. Er hielt Abstand zu seinen Vordermännern, die ihm mit der lauten Musik und den Bierflaschen in der Hand etwas suspekt vorkamen. Nur deshalb ließ er seinen Blick wandern und entdeckte, dass im zweiten Stock der Schule noch ein Licht brannte. Der Terrier kniff wieder die Augen zusammen, versuchte etwas zu erkennen. Schemenhaft meinte er eine Person durch den Raum flitzen zu sehen. Ob es sich dabei um einen Mann oder um eine Frau handelte, konnte er nicht erkennen. Dass es eine Rolle spielen würde, glaubte er nicht. Abgelenkt von dem Schattenspiel verpasste er die Grünphase. Die leiser werdende Musik war ihm nicht aufgefallen. Ein Opel hupte, da war es aber schon wieder Rot.

      „Na, hätte er sich auch sparen können“, dachte sich Terrier.

      Er stand jetzt immer noch an der Ampel, diesmal weiter vorne und wartete auf die zweite Grünphase, weil er ein Trottel war. Er schaute sich in der Sorge um, dass auch andere das mitbekommen hatten. Nun ließ er den Blick nicht wandern. Konzentriert wie ein Pferdemädchen in der Grundschule auf der anderen Straßenseite, schaute er auf die Ampel. Es wurde Grün. Der Lichtkegel harmonisierte mit den Weihnachtskränzen, welche ab hier, an jeder Straßenlaterne angebracht waren.

      Hinter der Kreuzung begann die Einkaufsstraße von Kandenberg. Überraschend viele Läden hatten sich gehalten und dem Internetbestellmarkt getrotzt. Darunter waren nach der Meinung des Terriers auch richtig unnötige Ramschläden, die sich auf Sachen wie Regenschirme, Socken oder Einlegesohlen aus kubanischen Zwergwachtelfell spezialisiert hatten.

      Der Terrier wusste nicht einmal, wo Kuba lag. Zwergwachteln mochte er jedoch, besonders die viereckigen. Bei denen musste man nie Angst haben, dass sie zur Seite fielen.

      Über den Läden waren Wohnungen mit winzigen Balkonen. Der Straßenzug war sehr eng und schien auch bei diesem unzauberhaften Wetter etwas Märchenhaftes zu haben. Die Mülleimer waren alle halbvoll und nichts lag auf der Straße. Die Jungs von der Ampel hatten ihre Bierflaschen in die Metallkörbe um den Korb gestellt, denn Pfand gehörte daneben. Der Terrier nahm sich einen Kaugummi aus seiner Jackentasche und blieb in der Mitte der Einkaufspassage stehen. Dann zog er sich die Kopfhörer aus dem Ohr und dachte, in einem kurzen Schockmoment, er hätte die mobilen Daten nicht ausgemacht, denn seine heruntergeladenen Lieblingssongs unterschieden sich von der Playlist „Deutschrap Royal“, im Wesentlichen nur in einmal Phil Collins.

      Auf der rechten Seite war das Haus, zu dem er wollte. Er steckte sich den Kaugummi in den Mund und streckte den linken Arm zum Klingeln aus. Dabei bemerkte er, dass seine Uhr zwei Stunden nachging.

      Um 17:20 Uhr stand Elif noch unter der Dusche. Obwohl das Bad recht groß war, bot es einige Tücken. Selbst wenn das Fenster geöffnet