Was Menschlich Ist. Sebastian Kalkuhl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sebastian Kalkuhl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754921586
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er den Engel unterstützen, das erschien ihm gut und richtig und wenn ihm jemand hier ernsthaft helfen konnte, dann dürfte das wohl er sein. Aber andererseits konnte er wohl kaum etwas gegen den Hass ausrichten, mit dem Janne gerade auf seinen Gegner einprügelte. Wenn er zwischen die Fronten geriet, glaubte er garantiert als Erstes dran.

      ›Lässt Luzifer Menschen auf Engel los?‹ Vor lauter Entsetzen beschloss sein Hirn schon wieder, sich mit den irrelevantesten Dingen zu beschäftigen. ›Sind wir deswegen hier? Wie um alles in der Welt soll ihn das befreien, wie zur Hölle-‹

      »Hilf mir, verdammt nochmal!«

      Chris schreckte zusammen. Janne hatte den Engel von hinten gepackt. Der schlug verzweifelt um sich und murmelte Worte, die Chris als Gebet erkannte, während ihm Todesangst offen im Gesicht geschrieben stand. »Bring es zu Ende, darauf haben wir gewartet, dafür bist du da!«

      ›Ich soll was?‹ Jetzt setzte die Panik ein. Kampf- und Fluchtinstinkt bekämpften sich gegenseitig, löschten sich aus und ließen Chris zur Salzsäule erstarren. ›Das kann ich nicht. Zusehen, wie jemand anders Leute umbringt ist das eine… Aber das kannst du unmöglich von mir verlangen.‹

      Janne nickte mit dem Kopf in Richtung Boden. Chris folgte seinem Blick und erkannte ein dünnes Messer im Gras liegen. »Krieg gefälligst deinen Arsch hoch, verdammte Scheiße!«

      ›Ich kann nicht. Ich kann das nicht.‹

      »Bring ihn um!«

      Der Engel wagte es nicht einmal, zu widersprechen. Da war immer noch Angst in seinem Blick, aber je mehr Zeit verging, desto mehr sah er danach aus, als würde er mit der Situation abschließen. Schließlich schloss er die Augen, seine Lippen bewegten sich noch, aber Chris hörte nur noch Jannes kontinuierliches Fluchen und die Aufforderung, sich endlich zu bewegen.

      ›Wenn ich es nicht mache, wird er es tun‹, dachte Chris. Irgendwie musste er die Sache vor sich rechtfertigen. ›Ich könnte wenigstens dafür sorgen, dass es schnell geht.‹

      »Wie nutzlos willst du denn noch sein, mach deine verdammte Arbeit oder du bist als Nächstes dran!«

      Chris spürte, wie er sich von ganz alleine in Bewegung setzte. Seine Beine trugen ihn an die Stelle, wo das Messer lag, sein Oberkörper bückte sich, seine Hände hoben es auf und hielten den Griff fest. Seine Augen schauten erst in Jannes Gesicht, dann auf den Engel. Er wehrte sich nicht mehr, war aber definitiv noch am Leben und bei Bewusstsein. Wenn er wenigstens ohnmächtig wäre…

      Seine Beine bewegten sich weiter. Er wollte die Augen schließen und schaffte es erst, als es auch egal war. In einer schwungvollen, fließenden Bewegung holte Chris aus und stach dem Engel mitten ins Herz, einmal, zweimal, er hörte auf zu zählen. Als er sich endlich zum Stillhalten zwang, waren seine Hände längst mit Blut beschmiert und der Engel sackte bleich in sich zusammen wie eine Puppe.

      7

      Chris

      2. November

      Erde

      Für einen langen Moment stand die Welt still. Rückblickend hätte Chris das wohl wertschätzen sollen, denn währenddessen realisierte er noch nicht, was gerade passiert war. Erst nach Minuten, in denen sich der Engel nicht geregt und Janne kein Wort gesagt hatte, drang die Erkenntnis wie in Zeitlupe zu ihm durch.

      ›Scheiße‹, dachte er. Dann fiel ihm nichts mehr ein.

      Um den toten Engel herum breitete sich ein blasses Leuchten aus. Durch den Staub hindurch verdichtete es sich, sammelte sich in den beiden ausgebreiteten Flügeln und zerstreute sich schließlich zusammen mit Tausenden weißen Federn. Letztere schwebten erst reglos in der Luft, drifteten dann langsam in Chris’ Richtung, umkreisten ihn, als suchten sie etwas. Kurz fühlte er so etwas wie einen Energieschub, als das Licht in seinen Körper eindrang – und dann war da nichts mehr. Die Federn fielen wie Steine zu Boden. Anstatt von Flügeln ragten nur noch bleiche Knochen in die Luft.

      Janne ließ die Leiche mit einem überraschten Schrei fallen, packte Chris an beiden Schultern und begann ihn heftig zu schütteln. »Fühlst du was? Ist irgendwas anders? Sag schon!«

      »Mir ist schlecht«, erwiderte er und gab sein Bestes, um sich nicht auch noch neben der Leiche zu übergeben. Automatisch tasteten seine Finger nach dem Anhänger um seinen Hals und allein diese Berührung hielt ihn in der Realität verwurzelt. »Ich habe gerade nicht wirklich-«

      »Ja!«, unterbrach ihn Janne aufgeregt, vermutlich aus den völlig falschen Gründen. »Du hast es hingekriegt! Wir haben es endlich hingekriegt! Wir-« Er runzelte die Stirn und warf noch einmal einen prüfenden Blick auf Chris. »Also… haben wir doch, oder?«

      »Äh.«

      »Du hast ihn umgebracht!«

      »Ich weiß«, murmelte Chris, als könnte er mit dieser Tatsache umgehen.

      »Irgendwas musst du doch spüren, verdammt noch eins!« Janne schüttelte ihn weiter, bis ihm schwindelig wurde. »Du kannst mir nicht erzählen, dass-«

      »Chris.«

      Beide erstarrten mitten in der Bewegung. Alles um sie herum verstummte. Chris wurde kalt und er begann zu zittern, während Janne ihn langsam losließ und mehrere Schritte rückwärts ging. Erst schaute sich der falsche Engel verwirrt um, dann ging ihm offenkundig ein Licht auf. »Er ruft uns«, erklärte er und klang gleichzeitig aufgeregt und zutiefst verstört. »Komm. Wir müssen zu ihm.«

      »Was?« Chris hielt sich die Stirn. Ein fremdes, doch bekanntes Bewusstsein durchwühlte plötzlich seinen Verstand und zog ihn mit aller Kraft in die Hölle. Er wollte sich wehren und war sich gleichzeitig bewusst, dass es dafür längst zu spät war. »Wie-«

      »Egal. Komm jetzt!«

      »Chris!« Sein Name hallte mit einer fremden Stimme durch seinen Kopf, begleitet von einem pochenden, migräneartigen Schmerz. Das Ziehen wurde stärker. Mittlerweile wollte Chris ihm aktiv nachgeben, in die Hölle zurückkehren und sich dem stellen, was ihn dort erwartete, aber er wusste nicht wie.

      Janne streckte die Hand nach ihm aus. Instinktiv zuckte er zurück und erwartete, geschlagen zu werden, doch stattdessen fasste ihn der falsche Engel beinahe sanft am Handgelenk und zog ihn zu sich. Es blitzte wieder um sie beide herum auf, die Luft wurde stickig und heiß, der Boden hart, die Welt dunkel. Hölle.

      Der Raum war größer als die Handvoll, die Chris in den letzten Tagen zufällig entdeckt hatte, aber bis auf einen dunklen, verstaubten Teppich ebenso leer. Kaum, dass sie angekommen waren, ließ Janne ihn los und fiel auf die Knie. Er biss sich auf die Unterlippe, und presste die Flügel so eng wie möglich an seinen Körper, ohne die Kleidung zu berühren. »Mach keine Scheiße jetzt«, murmelte er kaum verständlich.

      »Ich versuch es«, antwortete Chris ebenso leise. Nicht dass er Janne sonderlich mochte, aber gerade steckten sie in derselben Situation und das schweißte bekanntlich zusammen.

      Es dauerte nicht lange, bis das verhasste Licht den Raum erfüllte. Die Tür ihnen gegenüber flog so abrupt auf, dass es sie aus den Angeln hob, sich mehrere Risse im Stein bildeten und Staub und kleine Kiesel von der Decke regneten. Zuerst war nur eine gleißende Wand aus Weiß zu sehen, danach zeichnete sich Luzifers Gestalt hinter dem Schein ab. Er trug eine ungesunde Mischung aus Vorfreude, Anspannung und Angst im Gesicht.

      »Ihr solltet zu mir kommen und nicht ich zu euch!«, herrschte Luzifer Janne als erstes an, woraufhin der auf etwa die Hälfte seiner Größe schrumpfte, den Kopf einzog und eine Entschuldigung murmelte. »Ist der Engel tot?«

      »Ja«, antwortete Chris mechanisch, als hätte jemand anders das getan.

      »Das kann nicht sein.«

      ›Glaub mir, das hab ich mir von allen Dingen hier noch an wenigsten eingebildet.‹ Sicherheitshalber schaute Chris trotzdem noch einmal auf seine Hände. Verschmiertes Engelsblut prickelte und brannte auf seiner Haut – eine andere Facette der gleichen Feindseligkeit,