Was Menschlich Ist. Sebastian Kalkuhl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sebastian Kalkuhl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754921586
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schleichend langsam aus dem Wohnzimmer in den Flur. Sie sah aus wie ein Mensch, aber Chris spürte instinktiv, dass es keiner war. Rubinrote Augen starrten ihm entgegen, ein glänzender Blutfleck zierte die rechte Wange, zwei staubig blonde Haarsträhnen rahmten das wie aus Marmor gemeißelte Gesicht. Ein surrealer Glimmer machte es übernatürlich schön.

      Der Fremde trug einen langen schwarzen Mantel, der den Rest seines Körpers scheinbar verschluckte, zwei Schatten ragten aus seinem Rücken. Als sein Blick auf Chris fiel, fror er mitten in der Bewegung ein.

      ›Du hättest rennen sollen‹, dachte Chris sofort. Alles Andere begriff er kaum, aber diese Tatsache konnte klarer nicht sein. ›Du hättest nicht zurückkommen dürfen. Nicht heute. Nicht jetzt.‹

      Ohne den Blickkontakt zu brechen, wagte er sich einen Schritt rückwärts. Gerade, als er mit dem Rücken an die Haustür stieß, löste sich der Fremde aus seiner Starre, erreichte Chris innerhalb eines Augenblicks und presste ihn gegen die Tür, ihre Gesichter nur eine Handbreit voneinander entfernt. Der Fremde verzog keine Miene. Ein winziges Rinnsal Blut lief ihm die Wange herunter.

      Chris hielt die Luft an. Der Griff um seine Schultern war so fest, dass er fürchtete, mit einem falschen Atemzug seine eigenen Schlüsselbeine zu brechen. Schmerz pochte unter den Fingern des Fremden, fraß sich gleichzeitig in sein Hirn, weil er den Blick nicht abwenden konnte, weil er nicht verstand, während sich die Sekunden zu einer quälend langen Ewigkeit ausdehnten.

      Chris wollte nach dem Warum fragen, aber die Welt kippte, noch ehe er ein Wort herausbekam. Zuerst blitzte es gleißend auf, dann wurde ihm schwarz vor Augen, und dann gab sein Bewusstsein auf.

      2

      Chris

      25. Oktober

      Hölle

      Ohnmacht an sich war nie das Problem, sondern das Aufwachen danach. Eine beißende, sengende Hitze kroch Chris schon beim ersten Atemzug tief in die Lungen und schien ihn von innen heraus einäschern zu wollen. Er spürte sich auf rauem Fels liegen, der seine Haut bei der kleinsten Bewegung blutig schürfte. Wie achtlos weggeworfen. Seine Kehle fühlte sich an wie Schleifpapier, sein Hirn wie trockengelegt und er sich insgesamt, als wachte er aus dem längsten und schlimmsten Mittagsschlaf aller Zeiten auf.

      ›Wie lange war ich weg?‹ Mit Sicherheit eine der unwichtigeren Fragen, aber die erste, die Chris in den Sinn kam. ›Eine Stunde, einen Tag? Wie lange kann ein Mensch noch mal ohne Wasser überleben?‹

      Mit größter Mühe überredete er sich, zumindest die Augen zu öffnen. Die Welt um ihn herum blieb schwarz. Erst nach mehrfachem Blinzeln gewöhnte er sich genug an die Dunkelheit, um wenigstens Graustufen zu erkennen.

      Nichts an seiner näheren Umgebung kam Chris auch nur ansatzweise bekannt vor. Er lag mit dem Gesicht zu einer steinernen Wand, die von dunklen, gläsernen Strukturen durchzogen wurde. Links von ihm befand sich eine verschlossene Tür, entweder aus anderem Stein oder mattem Metall. Es gab weder Schlüsselloch noch Türklinke, noch irgendeinen Anhaltspunkt, ob sie sich überhaupt öffnen ließ, aber Chris fühlte sich in jedem Fall zu schwach, um es zu versuchen. Sein Körper verwendete alle Energie darauf, wach und so etwas wie am Leben zu bleiben.

      ›Kann ich bitte aufwachen?‹, dachte er. Die Hitze fraß sich unterdessen weiter durch seinen Körper.

      Chris sammelte genug Energie, um sich aufzusetzen. Der Stein schürfte seine Handflächen blutig und er wollte vor Schmerzen schreien, brachte aber nur ein heiseres Krächzen heraus. Wenn er wenigstens etwas zu trinken hätte…

      Er lehnte sich gegen die Felswand. Allein der Kontakt zum Stein zerriss den Stoff seines Hoodies fast vollständig, aber immerhin konnte er von hier aus besser sehen. Gegenüber von der Wand ging es nach ein paar Metern so steil bergab, dass der Boden scheinbar abrupt aufhörte. Dahinter befand sich eine weitläufige, einsame Ebene, die erst zu einer monotonen Fläche und dann mit dem Horizont verschwamm. Winzige Lichtpunkte flackerten dort unten, es mussten Feuer sein, aber Chris konnte weder Brennstoff erkennen noch sich erklären, wie sie allein für diese beißende Hitze sorgen sollten.

      Das Land sah verlassen aus, tot, ausgedörrt. Eine Feindseligkeit ging von ihm aus, die Chris nicht verstand, dafür aber sehr wohl die Nachricht, dass er nicht hier hingehörte.

      Etwas bewegte sich am Rand seines Gesichtsfelds. Chris fuhr zusammen, schürfte sich den Rücken noch weiter auf, und erkannte den Fremden jetzt erst neben sich. Der wiederum schenkte ihm keinerlei Beachtung, sondern ging wie automatisiert mit geräuschlosen Schritten stetig auf und ab. In der Dunkelheit glühten seine Augen wie Kohlen, erhellten seine Wangen und machten die schiere Anspannung hinter dem Glimmer sichtbar.

      Chris wollte wütend werden, oder zumindest fragen, wo zur Hölle er gelandet war, aber er brachte die Kraft nicht auf. Stattdessen versuchte er, so unauffällig wie möglich zu bleiben, beobachtete den Fremden weiter und hoffte, nicht bemerkt zu werden.

      ›Warum macht ihm die Hitze nichts?‹, dachte Chris. Wieder nicht sein größtes Problem, aber wieder das Erste, an dem sich sein Hirn festbiss. ›Wie kann er hier herumlaufen, ohne dass er-‹

      Der Gedankengang hörte mitten im Satz auf, als Chris’ Blick erneut auf die Umrissgestalten zwischen den Schultern des Fremden fiel. Flügel. Zwei mächtige, mit schwarzen Federn besetzte Flügel sprossen ihm aus dem Rücken.

      ›Engel.‹ Der Gedanke kam ihm so absurd vor wie die Umgebung. Sein Verstand hielt nur daran fest, weil ihm selbst mit Traumlogik nichts Besseres einfiel.

      Ein kaum merklicher Ruck ging plötzlich durch den Stein und der Engel blieb wie versteinert stehen. Die Tür neben Chris öffnete sich ohne einen Laut von selbst und gab den Blick auf einen gleißend hellen Raum im Stein frei. Im Kontrast mit der Dunkelheit schien das Licht schmerzhaft intensiv.

      Ein Teil von Chris hoffte auf Hilfe, während ein anderer, realistischerer längst akzeptiert hatte, dass die nicht kommen würde. Was auch immer hinter der Tür wartete, sein Hass war bis hierhin spürbar.

      Jemand packte ihn am Kragen und zog ihn unsanft auf die Füße. Chris erkannte den Engel vor sich, der ihn mit beinahe angeekelter Miene festhielt und kaum eines Blickes würdigte. Im Lichtschein wandelte sich seine Anspannung nun zusehends zu Angst. Er schleifte Chris über die Türschwelle, ließ ihn zu Boden fallen und kniete im Anschluss nieder. Die Flügel pressten sich eng an seinen Körper, als versuchte er, sich so klein wie möglich zu machen.

      Das Licht drang durch Chris’ ganzen Körper, seine Seele und sein Selbst, vereinnahmte seine Aufmerksamkeit, hielt seine Augen offen, obwohl es mit jeder Sekunde tausend Löcher in seine Netzhaut brannte. Etwas, jemand war mit ihnen hier, ein allumfassender goldener Schein, wunderschön und anziehend, abstoßend und verzerrt.

      Auch wenn der Schmerz in seinem Körper nicht mehr relevant schien, wollte Chris ihn herausschreien und brachte keinen hörbaren Laut heraus. Erst vergaß er, dass er fliehen wollte, dann das Konzept der Flucht an sich. Seine Gedanken lösten sich auf, er spürte sich nicht mehr. Überall Licht, nur noch Licht, nichts als Licht und Abscheu und endlich Erleichterung, als ihn die Ohnmacht erneut holte.

      3

      Dorian

      25. Oktober

      Hölle

      Der Mensch sackte zu Boden, wahrscheinlich war er tot. Am Ende waren Menschen nicht dafür gemacht, die Präsenz eines Engels zu verstehen oder gar auszuhalten. Selbst Dorian fiel es manchmal schwer, die vollkommene Gestalt seines Meisters zu ertragen.

      Das Licht dimmte auf ein erträgliches Maß herab und Luzifers Form wurde hinter dem Licht sichtbar. Sein Blick ruhte auf Dorian, hielt ihn zu Boden gedrückt und legte ihn offen wie ein Buch. Seine Stimme hallte Dorian mit seinen eigenen Gedanken durch den Kopf. »Du kannst gehen.«

      Er nickte und beeilte sich, auf die Beine zu kommen, auch wenn