Was Menschlich Ist. Sebastian Kalkuhl. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Sebastian Kalkuhl
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754921586
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der Gestalt inmitten des goldenen Scheins angezogen wurde. Mit schmerzhafter Langsamkeit gewöhnte er sich genug ans Licht, um die Person dahinter zu erkennen, doch in seinem tiefsten Inneren wusste er da schon längst, dass ein Engel vor ihm stand.

      Alles an ihm war makellos, von der blassen, glatten Haut über die langen, hellblonden Haare, die ihm wie flüssiges Gold über die Schultern fielen, bis hin zu jeder einzelnen, reinweißen Feder seiner Flügel. Ein Schein wie eine zerbrochene Krone zierte sein Haupt, lange Roben aus fließendem, dunkelroten Stoff bedeckten seinen Körper. Grenzenlose Verachtung schien aus seinen Augen und sein Blick allein befahl Chris, vor ihm auf die Knie zu gehen. Eine überwältigende Präsenz wühlte sich durch seinen gesamten Geist.

      Auch wenn er besser sehen konnte, verstand Chris kein bisschen. »Was-«

      »Du sprichst, wenn ich es dir sage«, antwortete der Engel so scharf, dass sich jeder Anflug von Widerstand im Keim erstickte. »Wie ist dein Name?«

      »Chris«, murmelte er und atmete beim bekannten Klang seiner eigenen Stimme erleichtert auf.

      Der Engel nickte langsam und wiederholte den Namen wie ein unbekanntes Fremdwort. Chris meinte, eine gewisse Faszination in seiner Stimme zu hören, neben mit einer deutlich präsenteren Abneigung ihm gegenüber.

      »Mein Name ist Luzifer«, sagte der Engel. Es fühlte sich an, als hätte Chris das längst gewusst. »Du fragst dich, wo du bist.«

      Unwillkürlich nickte er und versuchte nicht einmal, das zu bestreiten.

      »Du hast vor sechshundert Jahren gegen Gott und die Herrscher im Himmel rebelliert und wurdest zur Strafe in die Hölle gestürzt. Dämonen haben dich getötet, bevor du dich wehren konntest.«

      ›Was?‹ Chris wusste nicht einmal, wie er reagieren sollte. Ein Teil von ihm wollte das sofort zu seiner neuen Realität erklären, aber die Tatsache, dass das so offensichtlich gelogen war, ließ sich nicht ignorieren. ›Was will er von mir?‹

      »Als Engel gehörst du nicht hierher«, fuhr Luzifer unterdessen fort. Ob Unsinn oder nicht, seine Stimme verlangte Aufmerksamkeit. »Deine Seele hing in den Höllenflüssen fest und sank auf den Grund. Ich habe dich von dort gerettet.«

      ›Du musst den Falschen haben‹, dachte Chris in der Hoffnung, dass das Luzifer irgendwie erreichte. Etwas musste schiefgelaufen sein.

      »Durch deinen Tod wurde der Bann gebrochen, der dich in der Hölle hält. Du kannst sie jetzt verlassen. Und du bist in der Lage, den Bann nun für mich zu lösen.«

      »Was… Wie?«

      Der Engel stutzte und fiel einen Moment lang komplett aus seiner Rolle. Er starrte Chris direkt in die Augen, seine Schönheit verzerrte sich erst zu Entsetzen und dann zu abgrundtiefer Wut. »Du stellst keine Fragen«, zischte er, anscheinend mühevoll beherrscht. »Dein Gehorsam ist das Mindeste, was du mir schuldest. Du wirst mir alles geben, was du hast.«

      Etwas drückte seinen Kopf erst nach unten und zog ihn dann wieder hoch. Es fühlte sich wie ein groteskes Nicken an.

      »Ruh dich aus. Ich werde nach dir rufen.«

      Luzifer wandte sich um, verschwand so schnell wie er gekommen war und nahm das Licht mit sich. Es musste jetzt stockdunkel im Raum sein, aber Chris konnte immer noch problemlos sehen.

      Er fasste sich vorsichtig ins Gesicht. Die Haut war kühler und glatter als er in Erinnerung hatte, aber sie fühlte sich lebendig an und nicht nach Marmor. Unter dem neuen Oberteil aus fremdem, schwarzen Stoff war seine Brust flach. Den silbernen Anhänger spürte er noch immer um seinen Hals, das Metall war angenehm kühl, als könnte ihm die Hitze nichts anhaben. Nicht die ganze Welt stand auf dem Kopf.

      »Scheiße«, murmelte Chris trotzdem, weil ihm nichts Besseres einfiel. Vorsichtig legte er sich wieder auf den Boden, hielt die Flügel von sich abgespreizt, damit sie nichts berührten und schloss die Augen. Vielleicht war es sinnlos, immer noch auf einen endlosen Albtraum zu hoffen, aus dem es sich aufwachen ließ, aber den Versuch war es wert.

      5

      Dorian

      25. Oktober

      Hölle

      Nach einigen quälend langen Stunden hatte sich Dorian immerhin davon überzeugt, dass sein Weltbild gerade nicht komplett in sich zusammenbrach. Dennoch lag er immer noch reglos am Gebirgsrand, trocknete langsam aus und wusste nichts mit sich anzufangen.

      »Dorian.«

      Die Stimme hallte mit seinen eigenen Gedanken durch seinen Kopf. Dorian zuckte zusammen, kam im selben Moment auf die Beine und versuchte, die schmerzenden Schürfwunden so gut wie möglich zu ignorieren. Luzifer rief nach ihm.

      Dorian schloss die Augen und wünschte sich seinem Meister entgegen. Als er wieder aufschaute, befand er sich ganz woanders. Wo genau, konnte er auf die Schnelle nicht sagen, denn die unzähligen Höhlen und Tunnel im Gebirge sahen sich zum Verwechseln ähnlich, aber er wähnte sich tief unter der Erde. Die Luft fühlte sich deutlich kühler an als draußen.

      Sein Meister stand mitten im Raum, die Arme vor der Brust verschränkt. Selbst durch sein Licht hindurch sah er ausgezehrt und erschöpft aus. Was auch immer er mit dem Menschen gemacht hatte, es musste ihn angestrengt haben – und jetzt hinderte Dorian ihn auch noch daran, sich auszuruhen.

      Er senkte den Blick und wollte nichts lieber, als auf Knien um Vergebung zu bitten, aber er beherrschte sich. Lieber ruhig stehenbleiben, nicht fragen, nicht weiter provozieren, und alles über sich ergehen lassen. Er verdiente es.

      »Warum hast du nicht gehört?«, fragte Luzifer nach einem lang gezogenen Schweigen und verlor danach die Beherrschung. Jedes Wort eine Schockwelle, ein Schlag in den Magen und gleichzeitig ins Gesicht. Schon das erste hielt Dorian nicht aus. »Ich habe dir gesagt, dass du gehen sollst. Was war daran nicht zu verstehen?«

      Dorian biss die Zähne zusammen. Die Tränen an sich konnte das zwar nicht verhindern, dafür aber das laute Schluchzen, das in seiner Kehle saß. So einen Anblick verdiente Luzifer nicht.

      »Dass du mir dienst, ist das Mindeste«, flüsterte sein Meister. Er packte Dorian am Kragen und zog ihn zu sich. Zwang ihn, ihm gegen jeden Instinkt in die Augen zu sehen, den aus reinster Abscheu geformten Blick auszuhalten und Luzifer in seinen Geist zu lassen.

      Der Griff erlaubte Dorian nur ein paar Zentimeter Freiraum, aber es reichte für ein Nicken. Gleichzeitig wisperten seine vor Angst getriebenen Gedanken zwei Fragen vor sich hin. ›Warum betont er das so? Nur, weil du ihn enttäuscht hast?‹

      »Es tut mir leid«, flüsterte er heiser. Er könnte die Worte nicht ehrlicher meinen, doch sie klangen platt und sinnentleert. Seine Zweifel standen zu offen im Raum, als dass die Entschuldigung noch irgendeinen Wert besäße.

      Luzifer wusste das und ließ es Dorian spüren. Seine Verachtung schmerzte mehr als jede Folter, denn sie reichte tiefer. »Wer bist du? Was tust du?«

      »Ich bin Euer Diener.« Darum herum baute sich seine Identität auf. Das war seine Aufgabe, sein Lebenssinn. Was davor kam, tat nichts zur Sache. »Ich werde Euch aus der Hölle befreien.«

      »Du tust, was ich sage.«

      »Ich tue, was Ihr sagt.«

      »Du hast nichts gesehen.«

      Dorian nickte und klammerte sich an den Worten fest, als hinge sein Leben davon ab.

      »Du stellst keine Fragen.«

      ›Aber warum betont er das so?‹ Der Gedanke war nicht totzukriegen. »Ja, natürlich.«

      Luzifer ließ ihn los. Instinktiv wich Dorian mehrere Schritte zurück. »Du gibst mir alles.«

      »Alles, was ich habe«, flüsterte er. »Ich mache keine Fehler mehr.«

      Schon allein deswegen, um nie wieder Dinge zu sehen, die nicht für seine Augen bestimmt waren. Nein, die es gar nicht gab.