Ankunft ohne Wiederkehr - Teil 1. Vicky Lines. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Vicky Lines
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783745059502
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ich mich nur schwach erinnern, erlebte ich zuhauf noch während meines Studiums. Weil der Chef sich nicht bewegte, seine Schafe zu einer Schulung zu drängen, trugen die Schlipsträger alles auf unseren Rücken aus. Frauen sind zum Kaffee kochen und als Sekretärinnen gedacht, hörte man Stimmen von Geistern im Flur öfter rufen. Irgendwann beschloss ich in den letzten beiden Jahren, dass ich einfach zu teuer dafür bin.

      „So, ich denke, mehr werde ich heute nicht mehr tun. Meine fünf Lieblinge streicheln und dann ab zum blöden Familientreffen. Flugzeug hebt in fünf Stunden ab“, kommentierte ich kurz meine Vorhaben.

      Maren lachte sich regelrecht in einen Rausch, Rita fuhr auf dem Stuhl zu mir und las meine Antwort. Dann fing sie auch noch an. Hmm, ungewohnt, dass ich solche Seiten mal offenbarte. Das war sehr laut, was dazu führte, dass der Chef hereinplatzte. Das führte bedingungslos zu einem erneuten Lachen meiner beiden Bürofreundinnen. Meine Mundwinkel wurden unweigerlich wie an Marionettenstrippen nach oben gezogen. Nur so ein süffisantes Bisschen. Die Tränen in Marens Augen liefen schon die Wange herunter und Rita krümmte sich. Verstand ich ihre Ausgelassenheit, oder hatte ich unwillkürlich einen überbordenden Humor? Da ich mit dem Herrn Halbgott ohne Talent partout nicht reden wollte, entschied ich mich für einen letzten Rundgang durch den Serverraum. Zuerst führte mein Weg wortlos am Chef vorbei, der mich ahnungslos anstarrte und meine Antwort meiner heutigen ersten E-Mail bereits ausgedruckt hatte.

      „Ich wusste gar nicht, dass Web 4.0 noch mit ausgedruckten Mails funktioniert“, raunte ich doch noch ganz nebensächlich beim Vorbeigehen dem immer noch glotzenden Herrn Stratter zu.

      Buzzwording par Excellence genügte mir, mich zu entschuldigen. Gestern frotzelte mein Chef über mich vor den Yuppies, nur hatte ich es brühwarm mitbekommen. Glücklicherweise setzte ich durch, dass er absichtlich keinen Zutritt zum Serverraum bekommen hatte, wohin es mich gerade zog. Wäre ich erblindet, könnte ich hier ohne weitere Probleme weiterarbeiten. Keine Hand auf meiner Schulter. Die beiden lachten noch lauter im Büro hinter mir. Einer dieser blauäugigen, dunkelhaarigen und dreißigjährigen Möchtegernyuppies in seinem tief dunkelblauen Anzug mit gelber Krawatte schritt mir mit weiten männlichen Schritten auf dem typischen Bürokorridor entgegen. Schlank war er ja, aber diese Köpfe funktionierten irgendwie meist nicht richtig. Zumindest wusste ich, dass dieses Exemplar eine gleichaltrige Freundin seit circa sieben Monaten ausführte oder hofierte. Ich musterte ihn eingängiger, um eventuelle neue Anhaltspunkte zu sammeln. Der „Kollege“ sah mich an und blieb auf der Stelle, wie angewurzelt, stehen. Mein musternder Blick schien ihn zu verwirren. Oder zu verunsichern. Ignoranz funktionierte immer und ich öffnete die Tür zum Serverraum. Rein da. Feine 18 Grad erwarteten mich. Kaum war ich drinnen, sah ich die Schränke und begann, wie in den letzten Monaten, mit meinen Schätzchen zu reden und wollte ihnen guttun. Als ich vor meinen Drillingen stand, Athos, Aramis und Porthos nannte ich sie, hielt ich inne. Kniete mich hin und sah sie mir genauer an.

      „Also meine drei Haudegen, schlagt euch wacker. Wir haben uns doch lieb, oder? Ich bin in London für ein paar Tage. Seid stark miteinander und lasst euch nicht ärgern“, beruhigte ich mich.

      Seitdem ich diese Arbeit von einem Typen übernommen hatte, der anscheinend keine Ahnung von gut funktionierender Rechentechnik hatte, lief es in dieser Firma viel besser. Keine Abstürze seit über vierzehn Monaten. Darauf war ich stolz. Allerdings vertraute mir hier in der Firma niemand, außer den ganzen lieben Menschen, die mir auf meiner Karte einen tollen Urlaub wünschten. Okay. So alleine fühlte sich das wirklich nicht an. Natürlich entschloss ich mich, ihnen dafür auch eine Ansichtskarte zu schreiben. Um mich herum zwirbelten sich Kabel und surrte, na summte, viel Technik. Vor zwanzig Jahren hätte ich niemals vermutet, so viel Verantwortung für Technik ganz locker auf mich zunehmen. Noch einmal sah ich meine Rechner an und sie schienen mir zu zuzwinkern:

      Mach ruhig Urlaub. Ich lächelte. Streichelte noch einmal über das Gehäuse jedes einzelnen Rechners, ging dann zum Telefon und rief die Nummer der Netzwerkabteilung an. Kurzer Report meinerseits und ich bekam sehr erfreut zu hören, ich solle mich ruhig auf den Weg machen. Die Jungs da unten mochte ich nicht nur wegen ihrer Anerkennung. Oft standen sie mir bei, wenn es darum ging, ordentliche Lösungen für unsere Probleme zu finden. Eigentlich war doch alles gut. Komm schon altes Mädchen, geh einfach zurück, nimm deine Sachen und verschwinde von hier. Genau, ich hatte einfach keinen Bock mehr auf den Irrsinn. Als ich mich verabschiedete, umarmten mich Rita und Maren. Beide freuten sich wirklich für mich. Der Chef war einfach wieder verschwunden, nachdem ich ihm diesen Schlag in die Magengrube erteilt hatte. Als ich am Empfang vorbeiging, um meinen Schlüssel zu hinterlegen, saß eine der lieben Unterzeichnerinnen vor mir und sortierte Post. Ganz leise legte ich meinen Schlüssel und die ID-Karte auf den Tresen. Kurz blieb ich stehen, betrachtete noch einmal das vertraute Bild. Beinahe so, als verabschiedete ich mich für immer. Mein erster Urlaub seit drei Jahren.

      „Nun aber schnell weg hier, Samantha. Vermissen werde ich dich auf jeden Fall. Erhole dich gut. Und einfach anrufen. Ich verlängere für dich, verlasse dich darauf“, sagte sie zu mir.

      „Nett, echt nett von dir, Simone. Danke für das tolle Geschenk. Und nun, bis denne. Kopf hoch, ja?“, munterte ich sie auf. Ihr Lächeln strahlte so viel Zufriedenheit aus, dass all die befürchteten Bauchschmerzen verflogen. Ich wandte mich meinem Urlaub zu. Ach nein, da war ja noch das leidige Familientreffen. Vor dem Fahrstuhl rang ich mit mir, das nicht einfach abzusagen, doch zwei Stunden vor dem Boarding auf dem blöden, langweiligen Flughafen herumzusitzen, würde mir kräftig meine Laune vermiesen. Es öffnete sich die Fahrstuhltür, leer. Damit verließ ich für vierzehn Tage diese kleine Welt.

      Regnerische Familie

       Regnerische Familie

       George Haggerthon, London, September 2015, Freitag

      Als ich in der Küche eintraf, entdeckte ich nichts Neues. Viel zu kurz schlief ich in letzter Zeit. Meine Sorgen und Nöte drängelten sich vor den dringend notwendigen Schlaf. Meine Kinder schienen in den letzten Monaten mit sich beschäftigt zu sein. Jason lernte neben seinem morgendlichen Müsli für seine Klausur und versuchte, den Sticheleien Olivias mit Ignoranz auszuweichen. Er kam ganz nach mir. Warum auch immer sie das ihrem Bruder oder ihrer Schwester antat, wusste ich immer noch nicht. Ab und an fragte ich sie, jedoch verschwand Olivia dann einfach mit ihrer herzzerreißend leidenden Miene in ihrem so gar nicht typisch eingerichteten Zimmer. Sie war brünett, hatte also Barbaras Haare und meine grünen Augen. Aus ihr sprach bereits der Zynismus, um diese Welt zu ertragen.

      Wenn sie ebenfalls so aufgeweckt wie ich werden sollte, stünden mir einige schwere Jugendjahre bevor. Nun, zwölfjährige Mädchen schienen ebenso schwierig wie Jungs zu sein. Dürfte doch in diesem Jahr bei Olivia bereits die viel gepriesene Pubertät zuschlagen. Mit Jennifer, ihrer drei Jahre älteren Schwester, erlebte ich das vor eben drei Jahren. So deutlich erinnerte ich mich daran, als wäre es gestern. Meine älteste Tochter hingegen trug heute ihre Schuluniform wieder offenherzig, worüber ich mich nicht mehr aufregte, seit es für mich einfach keinen Sinn mehr ergab, bei ihr für irgendwas einzustehen. Ihre wundervollen schwarzen Haare, die sie von mir geerbt hatte, wurden von den blauen Augen meiner verstorbenen Frau komplettiert. Der Pferdeschwanz gefiel Jennifer anscheinend zur Schuluniform besonders gut. Sie war schlank, eher eine dieser typischen hochnäsigen Schulschönheiten, vermutete ich jedenfalls. Das war mir eigentlich gar nicht recht, aber die eigenen Kinder ähneln einem eben nur. Meinen Verdacht, sie hätte schlechten Umgang, müsste ich erst noch beweisen. Allerdings roch ich oft Zigarettenrauch an ihren Sachen. Jennifer hatte meine Hartnäckigkeit, ihr Leben betreffend, geerbt. Die Energie, ihr Paroli zu bieten, wurde mir durch die vergangenen Erlebnisse geraubt. Bald stand Jennifers Geburtstag an, der Sechzehnte. Ehrlich gesagt, hatte ich keinen Schimmer, was ich ihr denn schönes zu ihrem ersten großen Geburtstag auf dem Weg ins Leben bieten könnte.

      Eigentlich hatte ich in den letzten vier Jahren den Bezug zu meinen Kindern verloren. Ihr Anblick erinnerte mich an meine verstorbene Frau. Diese Küche auch. Sie ist das einzige überlebende Element der damaligen viel zu perfekten und wunderschönen Zeit in diesem Haus, worin ich die Vergangenheit nahezu jeden Tag erneut schmerzlich erlebte. Als Olivia mich erblickte, ging ich um Munterkeit bemüht zur Kaffeemaschine