Jotan baute sich vor Rango auf und stemmte die Fäuste in die Hüften:
„Wie viel Zeit denkst Du noch vergeuden zu müssen?“
Rango stand auf und packte seinen Freund an den Schultern:
„Ich weiß ja, dass wir losziehen müssen, aber wie soll ich so viele Leute durch das Gebirge bringen. Es werden täglich mehr und noch kann ich sie hier versorgen, aber ein solcher Marsch muss vorbereitet werden!“
„Wie sieht es mit Vorräten aus? Reichen die über den Winter und für den folgenden Marsch?“ fragte Jotan direkt. Die Ungeduld und der Ärger über den verpassten Aufbruch war ihm anzumerken, und er versuchte erst gar nicht, diesen Ärger zu verbergen.
„Ja, sobald im nächsten Frühjahr, einen Mondzyklus nach Imbolc, die Schneeschmelze beginnt, ziehen wir los! Aber ich habe auch noch auf Dich gewartet!“
„Weshalb?“ fragte der Seher überrascht und gereizt.
„Würdest Du, mit einer Gruppe junger Krieger, uns voraus ziehen und eine Marschroute festlegen?“
„Natürlich,“ Jotan war erleichtert, „aber gib mir keine allzu jungen Draufgänger mit, vielleicht müssen wir uns auch mal verbergen.“
Jotan wollte zwar den Abmarsch und war froh über die Aufgabe, aber er verließ sich lieber auf sich selbst, als auf ein paar Hitzköpfe. Seinen eigenen Jähzorn hatte er in den letzten Jahren langsam in den Griff bekommen – wobei auch daran seine, leider verstorbene, Frau ihren Anteil hatte.
Trauer flog in seine Augen und Rango bemerkte dies.
„Was hast Du?“
„Ich dachte gerade an meine Frau und unsere Tochter.“ Sein Blick verfinsterte sich und Rango rechnete schon mit einem seiner berühmten Wutausbrüche.
Dann aber erhellte sich der Blick des Sehers wieder und er fragte sachlich: „Wann sollen wir los?“
Bei dem Gedanken an den Abmarsch war die Trauer wie weggeblasen.
Rango lächelte: „Sobald Ihr könnt! Ich werde die Krieger und einen Handwerker zu Deiner Caban schicken.“
„Gut! Gut!“ sagte Jotan und die beiden Männer drückten sich beherzt die Hände.
Jotan schritt schwungvoll zur Türe hinaus und der Brennos sah ihm schweigend nach.
Nach all den Reisen, die Jotan hinter sich gebracht hatte, war er nach fünfzehn Wintern wieder in seiner Heimat angekommen und hatte sich eine Frau aus dem Stamm genommen, aus dem der Räuber stammte, den er einst erschlug.
Der Stamm war damit einverstanden, unter der Bedingung, dass Jotan bei ihnen blieb, ihre Kranken heilte und ihnen anhand der Zeichen der Natur die Zukunft voraussagte – auch wenn Jotan immer wieder betonte, dass er das nicht konnte. Die Leute vertrauten ihm und er fand zur Ruhe, wegen des Glücks der Liebe, die er bei seiner Frau gefunden hatte. Dann wurde Slania krank und kurz darauf starb auch ihre Tochter Ysolt und Jotan verfiel wieder in eine Übellaunigkeit, die dem Brennos überhaupt nicht gefiel.
Rango lächelte, als er daran dachte, mit welchem Elan Jotan gerade zurück zu seiner Hütte marschiert war, die etwas abseits des Dorfes und des Lagers stand, das der Brennos bewohnte.
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Vaughn klopfte an Jotans Türe, er hatte sich mit Amdegh, Lugh, Finnian und Ryen hierher begeben, nachdem der Brennos ihnen gestern den Auftrag dazu gegeben hatte.
Sie alle waren etwa halb so alt, wie Rango und hatten Ehrfurcht vor dem alten Seher, der immer wieder betonte, dass er nicht in die Zukunft blicken konnte.
„Ja, ja“, war genervt von innen zu hören, „kommt einfach rein, wenn ihr was wollt.“
Die Zornesausbrüche des Alten waren landauf, landab bekannt und so öffnete Vaughn vorsichtig die Türe.
„Was willst Du? Das ist eine Türe, aus Holz gezimmert und ich bin nur ein Mensch und kein Ungeheuer, also komm rein!“
Jotan stand unwillig in der Mitte seiner Behausung und blickte den jungen Mann ungeduldig an, dessen lange blonde Haare zu einem Zopf geflochten war, der an seinem Rücken herabhing.
„Der Brennos Rango schickt uns, damit wir Dich begleiten, um einen Weg zu den Etruskern zu erkunden.“
„Aha!“ schnaubte Jotan. „Vor zwei Tagen war ich bei Rango und er wollte mir ein paar Krieger mit auf den Weg geben. Seit zwei Tagen schon bin ich bereit zu gehen. Und Ihr kommt jetzt erst! Nun denn!“
Mit einer Schnelligkeit, die die jungen Männer überraschte, schnappte sich Jotan einen Sack, der bereits gepackt auf dem Boden stand, holte sich einen Ziegenbeutel, der mit Wasser gefüllt war, warf sich eine Kutte über die Schultern, gürtete sich mit einem langen Schwert, warf den Sack auf seinen Rücken und ging zur Türe hinaus. Vor seiner Hütte stieß er einen grellen Pfiff aus und aus den Büschen kam ein großer, kräftiger Hund.
Der Hund vollführte einen regelrechten Tanz um Jotan, bis dieser ein kurzes und knappes „Halt!“ rief und der Hund setzte sich still neben seinen Herrn. Jetzt erst musterte er aufmerksam die jungen Männer, die sich in der Begleitung seines Herrn befanden.
Jotan war verärgert: „Man merkt, dass Du noch viel lernen musst, um ein wahrer Krieger zu werden.“
Vaughn lächelte, weil ihn dieser Satz an seine eigene Ausbildung zum Krieger erinnerte, doch Jotan warnte ihn: „Sei vorsichtig! Er hat sich gefreut, weil ich ihn gerufen habe. Auf jemand anderen hört er nicht und wenn ich nicht dabei bin, solltest Du Dich ihm nicht nähern. Er wird uns helfen, beim Aufspüren des Wildes und bei der Nachtwache. Doch lache ihn nicht aus, sonst könnte es passieren, dass er das missversteht und Dir Deine Kehle durchbeißt.“
Vaughn schluckte.
Jotan zog aus dem Dachüberstand, der sich oberhalb seiner Haustüre befand, einen Gegenstand hervor, der wie ein Sack aussah und band ihn mit einer Lederschur an der Schulter des Hundes fest.
„Er wird auch einen Teil unserer Lasten tragen“, erklärte er knapp. Dann schnappte er sich einen langen Wanderstock aus Eichenholz, der ihn um Haupteslänge überragte und stapfte los.
Nach ein paar Schritten blieb er stehen und drehte sich zu den jungen Männern um, die verdutzt dastanden:
„Na, Jungens was ist los mit Euch?“
Vaughn nickte seinen Kameraden zu und sie liefen dem Alten nach.
„Nun kommt schon, sonst bin ich alter Mann noch vor Euch bei den Etruskern!“ rief Jotan und war schon wieder zwanzig, dreißig Schritt vor den jungen Männern, der Hund ständig an seiner Seite.
„Ich dachte, Du wolltet uns erst noch kennenlernen?“ wandte Lugh ein.
„Überlasse das Denken den Pferden, die haben größere Köpfe als Du!“ gab der Alte grob zurück. „Wir werden uns schon kennenlernen, auf dem Weg, der vor uns liegt. Auf so einem Weg lernt man sich besser kennen, als wenn man jahrelang am Feuer sitzt. Wir werden die größeren Ansiedlungen und Oppida meiden, uns von der Jagd ernähren und was wir unterwegs sonst noch brauchen, mit Silber bezahlen. Habt Ihr genug Silber bei Euch?“
Ein „Ja! Ja!“ raunte durch die jungen Krieger und damit war Jotan zufrieden.
Schweigend marschierte er weiter und so hatten sie zur Mittagszeit schon ein gutes Stück ihres Weges hinter sich gebracht.
Amdegh rieb sich den Bauch: „Wann machen wir Pause? Ich brauche was zu essen.“
„Hast Du heute morgen nichts gehabt?“ fragte Jotan zurück.
„Doch schon, aber ...“
„Aber Amdegh will immer von allem etwas mehr,“ schnitt ihm Finnian gelangweilt das Wort ab.