Es war Nummer Drei, der im Animateursheim für Altgestorbene seine Urgroßmutter zum Bingoabend begleitete. Am gleichen Tisch saß eine gewisse Frau Hammer, die sich am liebsten in der Rolle der überreifen Mutter sah und im Alter mehr Freude am Tod fand als im jugendlichen Leben. Sie quasselte permanent über ihren Sohn, der offensichtlich der amtierende Grazer Bürgermeister zu sein schien. Nummer Drei hatte schon seit gefühlten tausend Bingo-Kugeln auf Durchzug geschaltet, doch als die alte Frau von einer besonderen Hinterlassenschaft erzählte, wurde er hellhörig.
>>Wenn man es nur fest genug drückt und die Augen schließt<<, sagte sie, >>dann kann man in die Vergangenheit sehen<<.
Auch wenn er Elke, denn sie hatte ihm inzwischen das Du-Wort angeboten, für eine Esoterik-Tussi hielt, musste Nummer Drei einfach nachfragen. Und als Elke Hammer von Art, Weise und Intensität erzählte, mit der man seine Ahnen wahrnehmen konnte, stelle er die richtige Überlegung an. Vielleicht nahm die Alte ja nicht die Vergangenheit wahr, sondern das Jenseits.
Eine Woche später kaufte sich der Meister selbst ein Bingo-Los, nachdem ihm Nummer Drei in weiser Voraussicht von der Unterhaltung berichtet hatte. Es hätten die längsten zwei Stunden seines Todes werden können, doch Elke Hammers Geschichten ergaben Sinn. Scheinbar befand sich besagte Hinterlassenschaft seit Ende des 18. Jahrhunderts in Familienbesitz, und wurde immer dem liebesbedürftigsten Kind weitergegeben. Das Ganze geschah traditionell am Sterbebett des letzten verbliebenen Elternteils. Laut den Chroniken des toten Graz konnten auch Jahrhunderte zuvor schon nur mehr Mutmaßungen darüber angestellt werden, wo sich das Artefakt möglicherweise befand. Doch mit Einmarsch der Franzosen unter Napoleon verlor sich die Spur 1797 endgültig.
>>Katau, Katau Telokupann hat mein Vater es genannt, bevor er es mir gab und seinen letzten Atemzug tat.<<
>>Katau Telokupann<< wiederholte, Elke Hammer, bevor sie die Arme hoch riss und >>Bingo<< brüllte.
Cadeau de l'occupant, das Geschenk des Besatzers. Der Meister brauchte einige Zeit, bis er die sprachlich völlig unbegabte Frau endlich verstand, doch dann konnte er eins und eins zusammenzählen. Irgendein französischer Soldat musste das diesseitige Artefakt gefunden haben und schenkte es einer Urahnin von Elke Hammer. Vermutlich wollte der Froschschenkelfresser um die Dame werben und ihr einen Bastard andrehen. Ehrgefühl hatten diese Franzmänner immerhin noch nie besessen. Doch auch wenn es die Jahrhunderte zuvor irgendwo unberührt verborgen gelegen hatte, strahlte es dort vielleicht so viel Imagen ab, dass die Energien ebenso im Jenseits wirken konnten. Jeder Ort im Diesseits hatte ein zumindest einigermaßen ähnliches Pendant im Jenseits und einen Versuch war es wert. Das Beste, was dem Geheimbund passieren konnte war, dass im Idealfall sogar das in der eigenen Welt befindliche Gegenstück des Artefakts irgendwann dort gelagert worden war. Im Gegensatz zum diesseitigen war der Aufenthaltsort des jenseitigen Artefakts durchaus bekannt und er, der Meister, hatte sogar beschränkten Zugang zu diesem Ort. Doch die Sache hatte mehrere Haken. Das jenseitige Artefakt wurde seit Einsetzen der Gotik in einem Tresorraum unterhalb des Grazer Schloßberges aufbewahrt und unterlag der Obhut des Amts für Lebens- und Auslandsspionage. Bereits dessen Vor- und Vorvorgängerorganisationen waren dermaßen topsecret, dass auch im toten Graz keiner mehr nur den Hauch einer Ahnung hatte, wo sich das jenseitige Artefakt zuvor befunden hatte oder wo es hergestellt worden war.
Das Amt für Spionage unterhielt selbst durchaus Kontakte nach "oben". Meist knüpfte man Verbindungen zu irgendwelchen Spinnern, die an Engeln und Geister glaubten. Ab und an waren es auch so Freaks, die zu oft den Film The Sixth Sense gesehen hatten, denen das Amt mit Hilfe des Artefakts Nachrichten zukommen lies. Die normaleren der lebenden Grazer diagnostizierten im Regelfall an sich selbst Schizophrenie und ließen sich in eine Psychiatrie einweisen, wenn sie plötzlich Stimmen aus dem Jenseits hörten. Die Kontaktleute des Amts waren also für komplexere Aufgaben wenig brauchbar. Es war eine Sache, den Leiter des Amtes für Lebens- und Auslandsspionage unter Verwendung von wiederum anderen kompromittierende Schwarzweiß-Fotos um kleinere Gefallen oder Informationen zu bitten. Eine Genehmigung für einen Übertritt ins Diesseits zu bekommen, war jedoch eine völlig andere. Abgesehen davon, dass die Dauer eines solchen Übertritts technisch nur für maximal zwei Stunden möglich war, ging eine derartige Anfrage bis hinauf ins MFS. Nebenbei benötigte das jenseitige Artefakt fast einen ganzen Tag lang, um sich neu aufzuladen, bevor man es erneut verwenden konnte. Die Anfrage hätte dann von allen Mitgliedern des Ministeriums plus den Leitern der dazugehörigen Verwaltungs- und Exekutiveinheiten einstimmig genehmigt werden müssen und selbst dann konnte es passieren, dass die Allmächtige erschien und allen die Ohren lang zog.
Dies war zumindest seines Wissens nach zuletzt 1680 der Fall, als die Pest wütete und die Anzahl der Gestorbenen das Wirtschaftssystem des toten Graz völlig überlastete. Quid esse mortuus non debere redire numquam. "Was lebt darf, niemals tot sein, was tot ist, darf nie zurückkehren" war das grundlegendste und heiligste Gesetz der beiden Welten, welches nur in absoluten Notfällen Ausnahmen zuließ. Klar, er hätte das Artefakt auch stehlen lassen oder sogar selbst stibitzen können. Doch was wäre passiert? Es wäre dem transzentmographischen Störungscenter, welches über jegliche Nutzung im Vorhinein informiert werden musste, ein leichtes gewesen, den Standort des Artefakts zu bestimmen. Der Diebstahl hatte noch Zeit, wenn auch nicht mehr lange. Eine andere Variante wäre gewesen, direkt aber heimlich vom Schloßberg aus überzutreten, aber man hätte ihn nach seiner Rückkehr postwendend verhaftet und in die Skullauer Höllenkerker verfrachtet. Zwei Stunden. Zwei lächerliche Stunden. Die Zeit hätte ohnehin nicht gereicht, um den Plan zu verwirklichen, also wusste er was zu tun war. Der Meister musste den mutmaßlichen Fundort des diesseitigen Artefakts herausbekommen.
Von den mehreren tausend französischen Soldaten, die Graz für achtzehn Tage besetzt hatten, gab es nicht viele, die in der kampflos überlassen Stadt ihr Leben ließen. Doch es waren zumindest ausreichend viele, dass sie sich als Verein organisierten und einmal im Monat ihren Stammtisch abhalten konnten. Die Mitglieder des fünfzehn Mann zählenden Club de l'exilé français fielen typischen Besatzungskrankheiten wie Syphilis, Alkoholismus oder Kneipenschlägereien zum Opfer. Ursprünglich zählte der Verein über 20 Mitglieder, aber manche machten sich auf den beschwerlichen Weg ins tote Frankreich zurück, weil sie weder die deutsche Sprache noch die steirische Käsekultur ertrugen. Der Meister brauchte also nichts anderes tun, als zu warten, sein Französisch etwas aufzufrischen und sich eine Baskenmütze zu besorgen. Seinen falschen Bart hatte er bei solchen Unternehmungen ohnehin stets aufgeklebt. Der Stammtisch fand traditionell im Cafe Kill in der innerstädtischen Stubenberggasse statt. Gott, wie er dieses Sodom und Gomorra hasste, das in den Szenekneipen der niedrigeren Stände vorherrschte. Das Cafe Kill überraschte ihn allerdings durchaus positiv. Den zwei im Biedermeier-Stil eingerichteten Gasträumen war ein kleines Feinkostgeschäft angeschlossen, aus den Lautsprecherboxen der Musikanlage ertönte leise Richard Wagner. >>Gut integriert diese Franzmänner<<, dachte sich der Meister, >>doch auch Wagner macht aus ihnen noch keine Deutschösterreicher.<<
Der Club de l'exilé français hatte den hinteren der zwei Gasträume reservieren lassen und war gerade dabei, sich Baguette und Rotwein zu bestellen. Der Meister trat ein, deutete dem Kellner, dass er die erste Runde übernehmen würde und stellte sich als Clément Le Pen vor. Austauschstudent sei er gewesen, Geschichte als Hauptfach hätte er studiert. Kurz vor seinem Abschluss sei er gewesen, als ihn auf dem Nachhauseweg eine Ente angefahren hätte. L'amour pendant l'occupation française, "Liebe während der französischen Besatzung" sei das Thema seiner Diplomarbeit gewesen, die er nun endlich fertig schreiben wollte. Das Schlimmste an dem Ganzen war, die Franzmänner nahmen