Die Bim hatte inzwischen die Mur überquert. Diese war hier kein Fluss mehr, sondern glich viel eher einem Strom in Breite des Nils oder anderer adäquater Gewässer. Danach legte die Straßenbahn noch einen knappen Kilometer auf gerader Spur zurück und hielt schließlich an der Station Dead Lend, die am etwas überdimensionierten Grazer Lendplatz gelegen war. Esther zog Robert an der Lederjacke.
>>Wir müssen hier raus, die Wache liegt gleich auf der anderen Straßenseite.<< Esther drängte sich aus dem gut gefüllten Wagon ins Freie und überquerte wie ein Feldhase auf der Flucht im Zickzack die fünfspurige Straße, um sich an den quer in der Gegend stehenden und im Stau steckenden Fahrzeugen vorbei zu bewegen. Robert blickte kurz nach links, wollte es ihr gleich tun und wäre fast von einem rechtskommenden Puch 500, Baujahr 1957, angefahren worden. Letztendlich schaffte er es aber doch, ohne Verletzungen zu Esther aufzuschließen.
>>Scheiße, hier war doch immer nur eine Fahrtrichtung!<<
"Hier" war natürlich noch nie bloß Verkehr in eine Fahrtrichtung gewesen, aber Robert hatte immer noch Probleme damit zu akzeptieren, dass im toten Graz die Uhren etwas anders liefen, als im lebendigen. Im Falle der Uhren war das sogar durchaus wörtlich zu verstehen, da sich die Zeiger der Uhren im toten Graz nach links drehten. Allerding war das nicht immer so gewesen, sondern ging auf den sogenannten Uhrenerlass des legendären Grazer Leibhaftigen Hannes "Henker" Henlein von 1847 zurück. Aufgrund seines Akzeptanzproblems war Robert auch nicht unerstaunt darüber, dass er zwar einen durchwegs orientalisch geprägten Lendplatz vorfand, sowohl was den Baustill der Gebäude, wie auch den Kleidungsstil vieler Passanten betraf, er aber trotzdem keinen einzigen Kebab-Laden erblicken konnte. Esther, die scheinbar seine Gedanken zu lesen vermochte, gab bereitwillig Auskunft. >>Effes und Döner wirst du nur selten wo zu Gesicht und in weiterer Folge in den Magen bekommen. Liegt wohl daran, dass die meisten türkischen und kurdischen Kleinunternehmer eine recht hohe Lebenserwartung haben, aber ich schätze mal in spätestens fünf bis zehn Jahren dürften auch hier die ersten Geschäfte aufmachen.<<
Inmitten der ganzen in hellen Rot- und Gelbtönen gehaltenen Reihenbauten mit ihren Türmchen und Kuppeln, die optisch eine große Affinität zu arabischen Moscheen aufwiesen, stach ein im Gegensatz dazu schlicht gehaltener grauer Steinziegelklotz besonders hervor. Er war nicht viel breiter als das hölzerne Doppeltor, das als Eingang diente. Über dem Tor prangte ein steinernes Wappenschild, das bereits kleine Risse aufwies. Es zeigte zwei gekreuzte Schlagstöcke, die von dem in altdeutscher Schrift gehaltenem Wort "Polizei-Wachkorps" geschmückt wurden. >>Dann lass uns mal reingehen<<, sagte Esther und öffnete eine kleinere, in das Holztor eingelassene und mit Metall beschlagene Türe.
9
Nummer Vierzehn materialisierte auf der Herrentoilette des Grazer Rathauses. Das Praktische am Ritual der Rückkehr war, dass man dort wieder ins Leben schied, wo man ungefähr hinmusste, aber eben nur ungefähr. Wäre sie 30 Sekunden später aus dem Nichts vor den Pissoirs erschienen, hätte das langjährige und äußerst verdiente KPÖ-Gemeinderatsmitglied Leopold Luxemburg den Schock seines Lebens bekommen. Das wiederum hätte vermutlich zu einem gewichtsbegünstigten Herzinfarkt und einer nur bedingt trauernden Witwe geführt, denn Leopold jausnete und soff seit Jahren um einiges fetter und hochprozentiger, als er eigentlich von ärztlicher Seite aus durfte. So aber konnte sich Nummer Vierzehn noch schnell ihr Kleid zurecht richten, das aufgrund ihrer Reise durch Zeit, Raum und Tod über den Hintern gerutscht war, und ihren Dutt nachbinden, bevor Luxemburg hektisch ins Klo stürmte, den Hosenschlitz aufmachte und sofort zu pinkeln begann. Mit süffisantem Grinsen im Gesicht und seinem seiner Meinung nach überdurchschnittlich großen Penis in der Hand musterte er Nummer Vierzehn. >>Hey, hübsche Lady, Sie sind auf dem falschem Klo, aber von mir aus können sie gerne hier bleiben und ihn halten. Er ist ziemlich schwer.<<
>>Wundert mich bei der Größe<<, antwortete sie, und verließ das Klo, ohne dem seit Jahren sexuell äußerst frustrierten Leopold noch eines weiteren Blickes zu würdigen.
Nummer Vierzehn kannte das Bürogebäude noch von früher. Sie hatte während den Neunzehnzwanzigern hier als Sekretärin gearbeitet, bevor sie 1929 hingerichtet worden war, weil sie sich ein paar Monate zuvor gezwungen gesehen hatte, ihren untreuen Ehemann zu zerstückeln. Reue hatte sie deswegen nie verspürt, und tat es auch heute noch nicht. Es war ihr damals tatsächlich ein unbändiges Bedürfnis gewesen, ihren Gatten erst zu erstechen, um ihn dann zu filetieren, nachdem sie ihn mit der jungen Nachbarin in flagranti erwischt hatte. Vielleicht hätte ihr Gatte im darauffolgenden Streitgespräch eher nicht vorschlagen sollen, beim nächsten Mal doch einen Dreier zu probieren. Bei den Worten "Meine Libido reicht nicht für eine Frau alleine" flogen bei Nummer Vierzehn schließlich endgültig die Sicherungen. Diese Tat in ihrer Skrupellosigkeit und ihre lokalpolitischen Betriebskenntnisse prädestinierten sie gerade zu für den ihr jetzt auferlegten Auftrag. Hinzu kam, dass sie eine verblüffende optische Ähnlichkeit zur Mutter ihres hoffentlich zukünftigen Auftraggebers aufwies. Zu guter Letzt hatte sie sich in den vergangenen fünfunddreißig Jahren ein erstaunliches Repertoire an sexuellen Verführungskünsten angeeignet. Das hing damit zusammen, dass Nummer Vierzehn es sich im Jenseits zu ihrer Lebens- oder besser gesagt Todesaufgabe gemacht hatte, ihrer ehemaligen Grazer Nachbarin einen Freund nach dem anderen auszuspannen. Das Bewerbungsgespräch fand im zweiten Stock statt. Die Vorzimmerdame begrüßte Nummer Vierzehn und geleitete sie ins Büro des Bürgermeisters. Sie wurde bereits erwartet. >>Bitte setzen Sie sich Frau, Frau... - wie war noch mal ihr Name?<<>>Vierzehn, äh, ich meine Grünensteiner, Elfriede Grünensteiner.<< Nummer Vierzehn nahm in einem Lederfauteuil Platz, der vor einem braun lackierten Bürotisch aus Eichenholz stand, welcher die Größe einer Tischtennisplatte hatte. Der Boden war mit Marmorplatten gefliest, die Wände vollständig mit ebenfalls braun lackiertem Eichenholz verkleidet. Das große Fenster rechts des Schreibtisches war mit einem dicken, samtenen Vorhang bestückt und ein kristallener Luster hing an der Wand. Das Büro hatte gut achtzig Quadratmeter. Das Oval Office des Präsidenten der Vereinigten Staaten stellte sie sich nicht protziger vor. Auf der anderen Seite des Schreibtisches saß ihr der etwas farblose Bürgermeister Siegmund Hammer gegenüber und hinter diesem hing ein Ölgemälde, das seine verstorbene Mutter porträtierte. Elke Hammer war eine absolut attraktive Frau gewesen, zudem sah sie Nummer Vierzehn wirklich verdammt ähnlich. >>Sie wollen sich also um den Posten als meine persönliche Assistentin bewerben, Frau Grünensteiner. Erzählen Sie ein wenig über sich!<<
Nummer Vierzehn stand überhaupt nicht auf graue männliche Mäuse wie Hammer. Sie hoffte inständig, dass sie es nicht aufs Äußerste ankommen lassen musste, um ihren Auftrag zu erfüllen. Sie zauberte den erotischsten Augenaufschlag hervor, den sie jemals angewendet hatte, überkreuzte ihre Beine und zwar so, dass ihr enges Kleid weiter nach oben rutschte, und wechselte ihre Stimme in den "Mütterliche Fürsorge"-Modus. Nachdem sie ihren einstudierten Lebenslauf zum Besten gegeben hatte und den Bürgermeister noch in ein Gespräch über warme Honigmilch und Kekse