„Willst du damit Tauben schießen?“, fragte er ihn und deutete auf den an vielen Stellen notdürftig zusammengeflickten Bogen.
„Ich besitze nur diesen“, erklärte der Jüngling schüchtern.
„Schon gut.“ Rabanus klopfte ihm wohlwollend auf die Schulter. „Gehen wir.“
Hinter seinem Rücken verdrehte Rabanus die Augen. Leider hatte der schmächtige Zawer sich als einziger bereit erklärt, ihn bei seinem Unterfangen zu unterstützen. Vorerst musste er sich also mit derart schwachbrüstiger Waffenhilfe abfinden.
Egal. Später, wenn alle ihn als Helden feierten, konnte er sich immer noch nach geeigneteren Gefolgsleuten umsehen.
Ehrfürchtig schritt Zawer hinter dem dunkelhaarigen Kraftprotz her. Zielstrebig führte ihn Rabanus durch den Wald. Trotz Rabanus’ eindeutiger körperlicher Überlegenheit hatte sein schwacher Begleiter den schweren Sack geschultert, der Proviant und Wasservorräte für beide Männer enthielt. Manches Mal fiel Zawer weit hinter seinen Meister zurück, doch der kümmerte sich wenig darum. Stattdessen erklomm er mit Leichtigkeit steile Anstiege, die Zawer nur mühevoll bewältigte. Mit leuchtenden Augen bewegte sich Rabanus ihrem Bestimmungsort entgegen, den sie in den frühen Morgenstunden des nächsten Tages erreichten.
Hirgenrot hauste seit Jahrhunderten in einem kühlen, feuchten Gang aus Stein, den er nur verließ, um sich Nahrung zu verschaffen. Vorzugsweise verspeiste er Menschen, erzählten sich die Leute in den Dörfern. Einige zweifelten daran, dass er überhaupt noch existierte, denn gesehen hatte ihn lange niemand mehr.
Die hohe Felsspalte, die Einlass zu der dahinter liegenden Höhle gewährte, wirkte auf Zawer wenig einladend.
„Und du glaubst, er ist da drin?“, fragte er zweifelnd.
„Natürlich ist er das. Ich habe halb Tragonien abgesucht, um ihn ausfindig zu machen.“
Beeindruckt beobachtete der Jüngling, wie Rabanus sein Schwert hervorzog und es pfeifend durch die Luft sausen ließ.
„Und wenn er uns angreift, bevor wir ihn bezwingen?“, unterbrach Zawer ängstlich Rabanus’ Kampf gegen den unsichtbaren Gegner. Ungehalten beendete der Hüne seine Vorführung und wandte sich dem Gefährten zu.
„Wenn das Biest uns auch nur ein Haar krümmen will, werde ich ihm die Ohren lang ziehen.“
„Wirklich?“
„Aber natürlich. Und jetzt komm!“
Zawer hielt sich dicht hinter Rabanus, als sie den dunklen Felsenweg erkundeten. Das Schwert des Hünen erhob sich vor jeder Biegung, in der Erwartung, das Biest lauere dahinter. Jedes Mal hielt Zawer angespannt den Atem an und ließ ihm erst wieder freien Lauf, wenn sich herausstellte, dass kein Drache hinter der Kehre auf sie wartete. Durch ein mächtiges steinernes Tor gelangten die beiden schließlich in einen düsteren Korridor, dessen tatsächliche Länge sie nur erahnen konnten. Ob der Gang nach zwanzig Fuß endete, oder noch tiefer in die Finsternis hinein führte, verbarg sich in unergründlicher Schwärze. Mit erhobenem Haupt trat Rabanus ein, während Zawer ihm vorsichtig folgte. Was mochte sie hier erwarten? Rabanus sah sich aufmerksam um, blickte in alle Richtungen, bereit, jederzeit sein Schwert in den Leib des angreifenden Ungeheuers zu versenken.
„Ich glaube, hier ist niemand. Lass' uns umkehren!“, flüsterte Zawer, doch sein Freund schnaubte nur verächtlich. Ein weiteres Schnauben folgte, doch es klang irgendwie anders. Weniger menschlich. Rabanus hielt inne und starrte in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Der Erdboden erzitterte, als sich der Drache auf sie zu bewegte.
„Lauf!“, schrie Rabanus. Zawer rannte blindlings zum Tor zurück, doch kurz bevor er es erreichte, stolperte er über einen Stein.
Die scharfe Kante des Felsens, gegen die sein Kopf schmetterte, schnitt eine tiefe Wunde. Regungslos blieb Zawer liegen. Rabanus lief zu ihm und versuchte, ihn wieder aufzurichten, aber sein Kamerad bewegte sich nicht. Es blieb keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Rabanus wollte so schnell wie möglich zurück in den Wald, wo er sich besser verstecken konnte. Doch bevor er ins Freie hinaus stürmen konnte, spürte er einen warmen, feuchten Lufthauch in seinem Nacken. Er erstarrte.
Der Atem des Drachen. Sehr langsam wagte er, den Kopf zu drehen und blickte in schwarze Augen, die schimmerten wie Onyx. Das Ungetüm senkte sein Haupt zu ihm nieder und blies ihm stinkenden Odem ins Gesicht. Rabanus löste sich aus seiner Starre und wich vor dem Geschöpf zurück. Den Griff seines Schwertes hielt er dabei fest umklammert. Zornig stampfte das Untier mit den Vorderklauen auf den Boden und ließ so die Wände erzittern, bevor es seinen riesigen Körper in Bewegung setzte. Nur ein Schritt. In dem Moment, da Hirgenrot stehen blieb, zückte Rabanus sein Schwert und rammte es in den Hals der Bestie.
Gurgelnde Laute entfuhren dem überrumpelten Tier. Dunkelrote Flüssigkeit spritzte aus der Wunde und mischte sich am Boden mit Zawers Blut. Hirgenrots Maul öffnete sich, sodass sich Rabanus einer imposanten Reihe spitzer Zähne gegenübersah. Aus seinem Rachen entwich ein dünner Rauchfaden, als habe jemand in seinen Eingeweiden soeben ein Feuer entfacht. Rabanus ahnte bereits, dass es sich dabei um einen Vorboten handelte, dem bestimmt nichts Gutes folgte. Er wich zurück und bereitete sich auf einen gewaltigen Feuerstrahl vor, der ihm die Haut versengen würde. Brenzlig riechender Rauch hüllte ihn ein und vernebelte ihm die Sicht auf den Drachen, sodass er nur schemenhaft erkennen konnte, dass Hirgenrot taumelte. Der Feuerstrahl blieb dem Drachen scheinbar im Halse stecken, denn er hustete und schnaubte, ohne dass sich auch nur ein Fünkchen entlud. Rabanus, der gerade flüchten wollte, blieb stehen und starrte gespannt auf die sich lichtenden Schwaden. Dahinter kam ein äußerst angeschlagener Hirgenrot zum Vorschein, der wirkte, als könnte er sich kaum noch auf den Beinen halten. Einen Augenblick später knickten sie ein. Krachend stürzte der Drache zu Boden und blieb dort reglos liegen. Über ihm zogen die letzte Dampfwölkchen hinweg, die sich zeitgleich mit Hirgenrots letzten Atemzügen in Luft auflösten.
Rabanus wartete noch einen Augenblick, um sicher zu sein, dass das Biest den Tod nicht nur vortäuschte, dann zog er mit einem triumphierenden Lachen sein Schwert aus dem Schuppenpanzer heraus, um es wieder in der Scheide zu verstauen, nachdem er die triefende Waffe an seinem Beinkleid abgewischt hatte.
Erst dann wandte er sich wieder Zawer zu und umfasste dessen Handgelenk, um den Puls zu überprüfen. Nichts. Vorsichtig drehte er ihn auf den Rücken und blickte in stumpfe Augen, die ausdruckslos durch ihn hindurch sahen. Seine Hand schloss die Lider des Kameraden für immer. Für einen Moment überfiel ihn Wehmut, denn schließlich hatte er einen treuen Begleiter verloren. Doch die Trauer währte nicht lange. Rabanus empfand tiefe Befriedigung, als er sich in Erinnerung rief, soeben eigenhändig einen Drachen erlegt zu haben. Endlich konnte er seinen Mut vor allen bezeugen. Erneut fasste er hinter seine Schulter, um das Schwert noch einmal zu benutzen. Drachenzähne waren nicht nur ein ausgezeichneter Beweis für seine Tat, sondern erzielten auf den umliegenden Märkten äußerst gute Preise. Ein Stofffetzen, aus Zawers Hemd herausgeschnitten, diente als Tragebeutel, in dem nach und nach die Fragmente des Drachengebisses verschwanden. Begeistert registrierte Rabanus, wie viele Zähne der Drache besaß, die allerdings in ihrer Gesamtheit auch sehr schwer waren. Er erwog, Zawer hier liegen zu lassen und ihn später zu holen. Doch die Dorfbewohner würden ihn nach dem Verbleib des Jungen fragen, und er würde sich rechtfertigen müssen. So beschloss Rabanus, das Bündel voller Drachenzähne zu verstecken und es später zu holen. Lediglich einige besonders schöne Exemplare würde er mitnehmen. Das reichte zunächst als Beweis für seine Heldentat. Nachdem Rabanus ein paar ausgewählte Stücke unter seinem Hemd verschwinden lassen hatte, warf er sich Zawer über die Schulter und ließ Hirgenrot tot und zahnlos in seiner Höhle zurück.
Irian legte sein Buch zur Seite, als von draußen Rufe in die spartanisch ausgestattete Kammer drangen. An seinen freien Nachmittagen vertiefte sich der schlanke Jüngling gerne in die Welt heroischer Abenteurer. Der angehende Dorflehrer, dessen Haar dieselbe Farbe besaß wie das Band aus Flachs, das seinen langen Zopf im Nacken zusammenhielt, liebte es zu lesen, aber nun hatte man ihn unsanft aus der fesselnden Lektüre herausgerissen. Verärgert über die ungebetene Störung stand Irian auf und blickte aus dem Fenster. Was er dort