Nach einigen Stunden gelangten sie in einen Hohlraum, der Ramins Drachenhöhle erheblich ähnelte. Bizarre Kunstwerke aus Tropfstein ließen die steinerne Stätte wie die Ausstellungshalle eines Bildhauers erscheinen. Aber für diese Schönheiten hatten die beiden Reisenden im Augenblick keinen Sinn, überlagerte doch ein penetrant faulig-süßlicher Geruch die Grotte wie eine mit stinkendem Unrat gefüllte Grube. Ramin schüttelte angewidert seinen Kopf, als könne er dadurch den bestialischen Gestank aus seiner Nase vertreiben. Trotzdem fühlte er sich zu einer Erklärung veranlasst: „Das hier war Barsibars Höhle. Leider starb er letztes Jahr an Altersschwäche.“
Da Skiria die Geruchsbelästigung als unerträglich empfand, weckte die Geschichte der Höhle wenig Interesse. Flinken Schrittes durchquerte sie das Heim des verstorbenen Drachen, vorbei an einem gewaltigen Felsblock auf dem Weg zu einem Gang, der von diesem Ort wegführte. Nur aus den Augenwinkeln gewahrte sie im Vorbeigehen den Schatten eines riesigen Gebildes.
Erschrocken blieb Skiria stehen und wagte kaum, sich umzuwenden. Lauerten etwa Trolle in den verborgenen Winkeln der Drachenwege?
Auf einen Angriff gefasst, drehte sie sich um und hoffte, dass Ramin ihr zur Hilfe eilte. Doch der hatte seinen Standort am Eingang der Höhle nicht verlassen, sondern rief ihr fröhlich zu: „Komm zurück! Wir können durch diesen Gang ins Freie gelangen. Etwas frische Luft wird uns gut tun!“
Der vermeintliche Angreifer blieb bewegungslos. Staunend erkannte Skiria ein überdimensionales Gerippe, von dessen Rippen schwarze Fetzen halb verwesten Fleisches hingen. Barsibars Skelett verströmte den widerlichen Geruch, der sein ehemaliges Quartier erfüllte. Hurtig lief das Mädchen zurück zu Ramin, der sie von Barsibars Überresten hinfort ins Freie lotste, wo die Luft des Waldes wohltuend in Skirias Lungen strömte.
Die ungewohnte Helligkeit des lichten Tages ließ ihre Augen schmerzen. Sie atmete tief ein und genoss die frische Luft, deren würziges Tannennadel-Aroma einen reizvollen Gegensatz zu dem abscheulichen Höhlengeruch bildete. Die Reise hatte Ramin erschöpft. Skiria erschrak, als ihm plötzlich ein brüllender Urlaut entfuhr, denn Ramin hatte zuvor noch nie in ihrer Gegenwart gegähnt. Unter einer Tanne ließ er sich nieder, streckte behaglich seine vorderen Klauen aus und schlief wenig später so friedlich wie ein niedlicher Hundewelpe. Zu aufgeregt um zu schlafen, betrachtete Skiria den ruhenden Ramin und fragte sich, wie sich die Haut eines Drachen wohl anfühlen mochte. Seinen steifen Rückenkamm hatte sie bereits berührt, als sie über See geschwommen waren. Es drängte Skiria jedoch, seine Schuppen genauer zu inspizieren. Vorsichtig, damit ihr Begleiter nicht aufwachte, streckte sie die Hand aus und berührte das Tier. Die grün-grauen Plättchen bestanden aus einem merkwürdigen Material. Sie konnte es mit nichts ihr Bekanntem vergleichen. Ihre Finger zwickten in eine der Schuppen, um sie staunend näher zu prüfen. So hart wie Stein, aber doch biegsam. So rau wie Holz und gleichzeitig geschmeidig wie ein geschliffener Kristall.
„Unglaublich, einfach unglaublich!“, flüsterte Skiria beeindruckt.
Ramin klappte mit einem Mal die Augendeckel hoch und trompetete scheinbar hellwach: „Unglaublich praktisch, wie ich meine! Absolut wasserdicht, feuerfest und noch dazu äußerst attraktiv! Ich beneide euch Menschen nicht um eure dünne, blasse Hülle, auch wenn sie an dir ganz passabel wirkt.“ Erschrocken über sein jähes Erwachen rückte Skiria unwillkürlich eine Armlänge von ihm ab, zupfte nervös an ihrem Haar und schwieg, bis Ramin seinen Schlaf endlich fortsetzte.
Am zweiten Tag ihrer Reise passierten sie noch mehrere ehemalige Drachenbehausungen, doch Hojomors Höhle befand sich nicht darunter.
„Weit kann es nicht mehr sein“, vermutete Ramin. Als schließlich ein Hohlraum mit kuppelartigem Dach vor ihnen auftauchte, glaubten sie, ihr Ziel sei erreicht.
„Onkel Hojomor!“ rief Ramin dröhnend. Sie betraten die weitläufige Grotte und sahen sich dabei nach dem alten Drachen um. Wie es schien hatte er sein Quartier verlassen.
„Hojomor? Wo bist du? Ich bin es, Ramin, und ich habe eine Freundin mitge...“
Ramin verstummte, als er die Gefahr erkannte. Ein wimmerndes Geräusch entfuhr ihm. Skiria glaubte, einen ängstlichen Ausdruck in den Augen des sonst so furchtlos wirkenden Drachen zu entdecken.
„Was hast du?“, fragte sie noch arglos. Doch Ramin antwortete nicht, sondern starrte wie paralysiert auf die gegenüber liegende Wand.
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