Den Marktplatz fand er leer vor. Die Händler, die tagsüber lauthals ihre Ware anpriesen, hatten den Markt längst verlassen. Im fahlen Mondlicht wirkten die schemenhaften Umrisse der Stände wie Grabmäler, die über dem kopfsteingepflasterten Platz aufragten. Der kühle Abendwind hatte den aufdringlichen Geruch vom Blut geschlachteter Schweine und der Barben, die tagsüber der Länge nach aufgeschlitzt an langen Schnüren hingen, fortgeweht. Gewandt schlängelte sich Janus durch die eng gestellten Buden, sah hinter Bretterverschlägen und unter Tischen nach, aber außer einer alten Frau, die mit einem schmutzigen Lappen ihren Tresen schrubbte, konnte er niemanden entdecken.
„Hast du meine Schwester gesehen?“, fragte Janus, doch statt einer Antwort spuckte das Marktweib verächtlich auf den Boden. Für einen Moment war er erstaunt, kam jedoch dann zu dem Schluss, dass die Alte nicht ganz bei Trost sei.
„Recht vielen Dank auch für die nette Auskunft“, rief er ihr zu und ging davon, nicht ohne eine hässliche Grimasse zu schneiden. Die Frau putzte weiter, als hätte sie seine Worte überhaupt nicht vernommen.
Schnellen Schrittes verließ Janus den Markt und folgte der menschenleeren Straße, vorbei am Dorfschmied, am Krämerladen und der hiesigen Wachstube. Unter einem gedrechselten Schild, das an einer Holztür angebracht war und einen gut eingeschenkten Humpen zeigte, blieb er schließlich stehen. Auf den Fensterbrettern des Gebäudes brannten Kerzen und erhellten den Raum ein wenig, sodass Janus deutlich die Männer erkennen konnte, die sich dahinter eingefunden hatten. Gedämpft drang Stimmengewirr aus der Schenke, Treffpunkt für Trunkenbolde, Großmäuler oder jene, die nur ein wenig Zerstreuung suchten, um still bei einem kühlen Bier den Arbeitsalltag ausklingen zu lassen.
Kurzentschlossen stieß Janus die Tür auf. Ein Schwall verbrauchter, heißer Luft wehte ihm entgegen, als er das Lokal betrat. Nestor Gamm, der am Tresen saß und seinen Ärger mit einem großen Schluck Gerstensaft hinunterspülte, erkannte den jungen Mann aus den Augenwinkeln. Sein Humpen knallte so heftig auf den Schanktisch, dass der Inhalt überschwappte und sich auf den Fußboden ergoss. Ohne davon Notiz zu nehmen, erhob sich Gamm mit grimmiger Miene. Er torkelte ein wenig, als er sich auf Janus zu bewegte.
„Wo ist deine verdammte Schwester?“, lallte der Gutsbesitzer. Janus stutzte.
„Was fällt dir ein, so von Skiria zu reden!“
Nestor Gamm stellte sich dicht vor Janus auf und blies ihm seinen übel riechenden Atem ins Gesicht.
„Gib’ zu, du versteckst sie! Also, wo ist die Diebin?“
„Von was redest du überhaupt, meine Schwester ist keine Diebin!“, rief Janus erbost und erhob vorsichtshalber die Fäuste.
„So? Meinst du?“, mischte sich ein kräftiger, junger Mann ein, der an einem der roh behauenen Holztische zu seiner Rechten saß. „Da täuscht du dich aber gewaltig. Nestor hat das Luder auf frischer Tat ertappt..“
„Halt deinen verlogenen Mund, Raul! Sie würde niemals stehlen.“
„Und was denkst du, warum das halbe Dorf hinter ihr her war? Die Närrin ist in den Wald gerannt!“
Gelassen mischte sich nun der Dorfälteste ein, der mit Raul an einem Tisch saß: „Wenn einer wissen sollte, wo sie ist, bist du es, Janus“, sprach er ruhig. „Es hat keinen Zweck, es zu leugnen. Wir werden es früher oder später erfahren, glaube mir. Also, wo ist sie jetzt?“
Janus Gesicht nahm einen Ausdruck an, der davon zeugte, dass er im nächsten Augenblick auf den Greis losgehen wollte.
„Seid ihr alle verrückt geworden? Was ist hier überhaupt los?“
Doch er bekam keine Antwort. Stattdessen erhoben sich fünf Männer, darunter der muskelbepackte Raul, und starrten Janus feindselig an. Nestor, der immer noch neben ihm stand, griff plötzlich nach Janus’ Arm.
„Lass mich los, Fettwanst!“, rief Janus und schubste ihn weg.
Krachend stürzte der Gutsbesitzer gegen den Tresen, versuchte, sich an dessen Kante festzuhalten, rutschte aber schließlich ab und blieb wimmernd auf dem grauen Steinboden liegen. Alle Aufmerksamkeit richtete sich auf Janus. Die anderen Männer zogen ihren Kreis enger. Der Wirt beobachtete, wie sich seine Gäste angriffslustig um Skirias Bruder scharten und fürchtete bereits um sein Inventar. Erleichtert verfolgte er, wie die Männer Janus trotz dessen massiver Gegenwehr rasch überwältigten und ihm die Arme auf den Rücken drehten. Raul fluchte laut, als Janus gegen sein Schienbein trat, doch irgendjemand hielt einen Strick parat, mit dem sie ihn schließlich fesselten. Johlend schleifte die Meute Janus zur Tür hinaus.
Als Janus spät am Vormittag erwachte, gelang es ihm nur mit Mühe, die zugeschwollenen Augen einen Spalt breit zu öffnen. Sein ganzer Leib schmerzte. Vorsichtig setzte er sich auf und tastete über das verkrustete Blut seiner Lippen, die sich anfühlten wie geplatzte Kochwürste. Die halbe Nacht hatte er Prügel bezogen, bis die Männer endlich überzeugt waren, dass Janus wirklich nicht wusste, wo sich seine Schwester versteckte. Schließlich hatten sie ihn gehen lassen.
Janus setzte sich vorsichtig auf. Unüberhörbar rumpelte es in seinem Bauch. Auf der Anrichte stand ein Glas Honig neben einem ganzen Wecken Brot, nicht mehr ganz frisch, jedoch noch weich und angenehm duftend, als er ihn anschnitt. Mit der Spitze der Waffe fischte er etwas Honig aus dem Gefäß und verteilte ihn auf dem Brot. Ohne wirklich zu genießen, biss er große Stücke ab und verschlang sie gierig.
Das Waldgebiet erstreckte sich über weite Teile des Landes. Wie ein riesiger grüner Mantel bedeckte es beinahe ganz Tragonien. Im Westen lag ein Gebirgsmassiv, dessen höchste Gipfel sich an klaren Tagen weit sichtbar vor dem blassen Horizont erhoben, dahinter die Hauptstadt Umiena, Ziel von Händlern und Reisenden. Die meisten der Dorfbewohner kannten Umiena nur aus Erzählungen. Viele Bürger zogen die beschauliche Ruhe des Dorfes der Betriebsamkeit einer Stadt vor, in der so viele Menschen lebten, wie es sich kaum jemand vorstellen konnte, der aus einer kleinen Gemeinde wie Runa stammte. Und der Gedanke, für die Reise in die Hauptstadt den Wald betreten zu müssen, erschien für viele undenkbar, obwohl kaum einer jemals eines der Wesen, die sich dort verbergen mochten, gesehen hatte.
Janus wusste sehr wohl, welch furchterregende Kreaturen der Wald beherbergte. Mit eigenen Augen hatte er verfolgen müssen, wie ein schreckliches Ungetüm den Wald für wenige Minuten verlassen hatte, um sich ausgerechnet seinen Vater als menschliche Nahrung auszusuchen.
Als der Drachen damals am abendlichen Himmel verschwunden war, hatte Janus bereits geahnt, dass niemand Nathael mehr helfen konnte.
„Ein Drache, wie schrecklich. Es tut mir sehr Leid“, hatte ihm der Dorfälteste zugeflüstert, den er um Hilfe gebeten hatte, während andere schulterzuckend erklärten, da könne man wohl nichts mehr machen.
Janus konnte die Vorstellung kaum ertragen, dass womöglich auch Skiria in die Fänge eines dieser Ungeheuer geraten war. Dennoch versuchte er, sich zu beruhigen. Er nahm sein Kurzschwert und ließ es in die Scheide gleiten, die er sich um die Hüfte schnallte. Einen kleinen Lederbeutel füllte er mit einigen Haselnüssen sowie etwas Silbergeld, bevor er die Tür aufdrückte und das Haus verließ.
Draußen sah sich Janus nach allen Seiten um. Niemand hielt sich auf dem kleinen Pfad auf, der zu ihrer Hütte führte. Schnellen Schrittes betrat er die angrenzende Wiese, der kürzeste Weg, um in den Wald zu gelangen. Er musste seine Schwester finden, bevor ein Unglück geschah.
III.
Liebevoll betrachtete Rabanus sein glänzendes Schwert. Ein letztes Mal spuckte er auf die Klinge und polierte mit einem Lappen kräftig nach, bevor er es in die Scheide steckte, die an einem Kreuzgurt auf seinem Rücken befestigt war. Heute würde er ihn kriegen. Seine vollen Lippen verzogen sich bei diesem Gedanken zu einem breiten Lächeln. Sollten die anderen doch über ihn spotten, soviel sie mochten. Bald würde jeder wissen, dass er ein Held war.