Ich bin nicht mehr allein, hier muss es noch andere Menschen geben oder gegeben haben.
Wieder der Sicherheit gebende Griff an mein Schwert. Alles in Ordnung, es sitzt fest an meiner Seite und wird mich beschützen. Die einzige verbleibende Frage: »In welcher Richtung soll ich dem Pfad folgen?« Nachdem ich bereits geraume Zeit, rein zufällig der einen Richtung folgte, ist es sicher die beste Lösung sie beizubehalten.
Eine Stunde später hört der Regen auf. Nur der Nebel in den Niederungen und die tropfenden Bäume zeugen noch von den vergangenen Regengüssen. Die noch feuchte Luft ist kalt, aber angenehm erfrischend und weckt auf wundersame Weise die vergessenen Lebensgeister.
Nach einer scharfen Biegung um einen etwa acht Meter hohen Felsvorsprung offenbart sich mir ein Ausblick, der nicht in Worte zu fassen ist.
Ich blicke in eine achtzig bis einhundert Meter tiefe Schlucht, am Grund ein reißender Wildbach. Das Wasser muss enorme Kräfte besitzen. Vereinzelt mühen sich armdicke Baumstämme gegen die Fluten. In der starken Strömung rollen Steine größer als Fußbälle wie kleine Kieselsteine. Alleine die Geräuschkulisse ist furchteinflössend. Schlucht aufwärts thront ein riesiges, sicher mehrere tausende Meter hohes Bergmassiv mit einer strahlenden, weißen Haube aus Schnee oder Eis.
Erschaudernd stelle ich mir die Urgewalten während der Schneeschmelze vor, die diesen bereits jetzt beachtlichen Bergbach in einen riesigen, alles mit sich reißenden Strom aus Wasser und Geröll verwandeln.
Einbildung oder Wunschgedanke, ich glaube einen Vogel zu hören.
Ja, jetzt wieder, ganz deutlich, trotz des tosenden Wassers, eine Vogelstimme, viele Vogelstimmen.
Mein Gott, hier erwacht das Leben und ich wandere genau hinein, in die Welt des Lebens. Nach wochenlanger einsamer Wanderschaft, endlich Leben. Nicht mehr alleine, der Wald ist voller Leben.
Mein Gott, diese Welt lebt.
Nie in meinem jämmerlichen Dasein war ich so glücklich, einen Vogel zu hören. Ich beobachte den Wald auf der anderen Seite der Schlucht, suche den Vogel, der das Leben verkündet, will das Leben nicht nur hören, will es auch sehen. Ja, am Ende eines Astes, auf einer kleinen, aber dicht gewachsenen Tanne, bewegt sich etwas. Da ist es, da ist das Leben.
Nie habe ich mich für Vögel interessiert, heute bereue ich es. Ich kenne nicht einmal seinen Namen, aber er ist der Bote des Lebens.
Der Bote genießt die frischen, honigsüßen, noch feuchten Knospen. Pickt, reißt und fliegt zum nächsten Ast, um wieder zu picken. Ich entdecke immer mehr der kleinen Lebensboten. Der ganze Wald ist voll davon. Ich kann mich gar nicht satt sehen.
Erst jetzt begreife ich, wie ich das Leben vermisste.
Meine Augen werden feucht. Freudentränen bahnen sich ihren Weg über beide Wangen. Ich setze mich auf einen noch nassen Stein und lasse meinen Körper das Leben genießen.
Aber auch auf dieser Seite der Schlucht gibt es Leben. Vor mir kämpft eine haselnussbraune Waldameise gegen die Last einer mindestens fünfmal so großen Fliege. Ich blicke auf den Waldboden, zwischen meinen Beinen und überall wimmelt es von Leben.
Es ist herrlich.
Die Sonne hat ihre Reise soweit fortgesetzt und jetzt berühren auch mich die ersten wärmenden Strahlen. Ich streichle den kalten Fels neben mir, als wollten meine Finger das Leben berühren und rieche das feuchte, eisenhaltige Mineral.
Zum erstenmal lebe ich... lebe ich wirklich.
Hier muss das Paradies sein!
Zufrieden schließe ich die nassen Augen. Eine letzte Träne bahnt sich ihren Weg, vorbei an meiner schniefenden Nase nach unten. Ich denke nichts mehr, fühle nur das warme Licht der Sonne, das langsam Stiefel und Umhang trocknet, höre das Wasser, die Vögel und immer wieder das Leben.
Die Zeit vergeht und erst gegen Abend erwache ich ohne die gewohnte Angst vor den hässlichen Tagträumen aus einem tiefen, erholsamen Schlaf. Mein Hunger erinnert mich daran, bis auf ein paar handvoll Wasser, noch nichts zu mir genommen zu haben.
In der durch Wald und Berge abgedunkelten Abendsonne entdecke ich in nächster Umgebung mehrere prall gefüllte Brombeersträucher. Die Früchte sind nicht nur angenehm süß, sondern mir auch bestens vertraut. Beeren, die ich mit Namen kenne; Beeren, die ich sorglos, ohne die Angst an giftige Früchte, genießen kann. Die Kerne, die meine vernachlässigten Zahnzwischenräume füllen, erinnern mich an meine Schulzeit, an die endlosen Ermahnungen: »Pflege Deine Zähne ordentlich, sie müssen ein Leben lang halten!« Ach hätte ich mich doch bloß daran gehalten. Ein Königreich für einen Zahnstocher. Die Kerne sind wirklich lästig. Mit Zunge und kleinem Finger versuche ich die kleinen Quälgeister loszuwerden.
Erst jetzt fällt mir auf, die Brombeeren besitzen keine Stacheln. Oder sind die Stacheln Dornen? Wieder diese lästige und völlig überflüssige Frage, die seit langem in meinem Kopf geistert. Egal... wildwachsende Brombeeren haben doch immer Stacheln? Aber diese? Es müssen kultivierte Sträucher sein. Ich suche die Ranken ab, aber weit und breit keine Stacheln. Die kirschgroßen Früchte sind für wilden Wuchs auch viel zu groß. Bei genauerer Betrachtung ist auch die Anordnung der Stauden zu gleichmäßig. Trotz des scheinbaren Wildwuchses erkenne ich ein geometrisches Pflanzsystem, das vor langer Zeit gut geplant wurde.
Es müssen hier, wenn auch vor längerer Zeit, Menschen gelebt haben. Die Bewohner waren sicher keine Wanderer, wie ich. Nomaden hätten nichts gepflanzt, das nach Jahren erst Früchte getragen hätte.
Ich mache mich auf, weitere Spuren im immer dunkler werdenden Abend zu suchen. Kurze Zeit später, gebe ich jedoch auf. Es wird zu dunkel.
Müde vom Staunen und Entdecken, suche ich mir bei fast völliger Dunkelheit einen trockenen Unterschlupf für die Nacht. Ein zwei mal drei Meter breiter Felsvorsprung erscheint mir ideal und vermittelt so etwas wie Heimat, Sicherheit und Geborgenheit.
Eingerollt in meinen Umhang, geschützt vor Regen und Kälte, schlafe ich ohne weitere Gedanken in Minuten ein.
Noch in frühster Morgendämmerung werde ich von tausenden Vogelstimmen, die den Tag begrüßen, geweckt. Ich bin wunderbar ausgeschlafen, nur meine Muskeln und Sehnen erinnern mich schmerzvoll an eine lange, auf hartem Boden verbrachte Nacht.
Zu sehr an den Lagerplatz am See, mit seinem weichen Sand und dem duftenden Moos unter den Birken, gewöhnt, bin ich mir sicher, für die nächste Nacht ein Lager auf weichem Waldboden zu suchen oder wenn es regnet, eine Höhle mit weichem Laub auszulegen.
Zum Frühstück gönne ich mir Beeren und Nüsse. Einige der Nüsse, sie müssen wohl vom Vorjahr sein, sind bereits vertrocknet, die restlichen aber ausgezeichnet. Zum erstenmal seit Wochen arbeiten meine Zähne, mahlen, quetschen und spalten die harte, ungewohnte Kost. Es ist fast unglaublich: meine Kaumuskulatur ist die Arbeit nicht mehr gewöhnt und beginnt bereits nach wenigen Nüssen zu ermüden und zu schmerzen! Trotz Hunger, der Kaumuskel ist am Ende.
Behutsam gewinne ich die Gewissheit wieder in einer lebenden, nicht in einer sich immer endlos wiederholenden Welt zu sein. Eine Welt, die lebt, aber in der man sich auch um seinen Hunger selbst kümmern muss. Ich ernte alle noch erreichbaren Nüsse und fülle damit meine Taschen. Die linke ist prall gefüllt, die rechte nur leicht mit einer handvoll Nüsse.
In Erinnerung an alte Bergfilme habe ich eine erste, echte Verwendung für mein Schwert. Aus einem hohen Nussstrauch hacke ich einen am Ende vier Zentimeter dicken Ast, säubere ihn von den wenigen Seitentrieben und betrachte stolz meinen neuen Wanderstock.
Wieder im Leben, möchte ich auch einen Kalender führen. Dazu ritze ich