Lord Geward. Peter P. Karrer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter P. Karrer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847617402
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immer Du selbst.«

      »Das begreife ich nicht, Sir: Sind Sie auch wiedergeboren?«

      Lincoln belustigt: »Ja sicher, bestimmt schon tausende Male oder mehr, aber ich kann mich an meine anderen Ich’s nicht erinnern. Ich bin nur Rechtsanwalt Abraham Lincoln, Sohn von Tom Lincoln, am 12. Februar 1809 in Kentucky geboren.«

      »Aber Sir, Sie sind oder waren Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika,« sage ich verzweifelt.

      »Davon weiß ich nichts«, erwidert er ungewöhnlich scharf.

      »Aber Sir, Sie beendeten die Sklaverei. Sie verursachten einen Krieg zwischen dem Norden und dem Süden.«

      Leise füge ich noch »Bürgerkrieg« hinzu, dann schweige ich. Meine Gedanken purzeln durcheinander, was habe ich da gesagt? Mit welchem Recht spreche ich über Dinge, von denen ich nicht einmal ansatzweise eine Ahnung habe. Mein Ton gegenüber dem Präsidenten war so, sicher nicht angebracht.

      Abraham Lincoln richtet sich langsam auf und beginnt langsam, fast wie in Trance, zu sich selbst zu sprechen.

      »Ja, gegen die Ausbeutung, Unterdrückung und Ungerechtigkeit habe ich gekämpft. Ich erinnere mich dunkel, an einen meiner Sätze:

      „DA ICH KEIN SKLAVE SEIN MÖCHTE; WILL ICH AUCH KEIN SKLAVENBESITZER SEIN. DIES DRÜCKT MEINE VORSTELLUNG VON DEMOKRATIE AUS“.

      Ich erinnere mich auch an meinen Vater, ich glaube, er war Schreiner. Seltsam, ich kann mich kaum mehr an seinen Beruf erinnern. Aber von einem Krieg weiß ich nichts! Nein, ich habe noch nie Krieg geführt, ich habe Gewalt immer abgelehnt!« philosophiert Abraham Lincoln, der mir jetzt bedeutend älter erscheint und ich glaube zu bemerken, wie seine Ausdrucksweise immer legerer wird. Ja richtig, er spricht mich seit einigen Sätzen mit „Du“ an und nicht mehr mit dem seltsamen Sir. Ich jedoch bleibe bei dem höflichen Sir, nachdem ich mich langsam daran gewöhne.

      »Sir, da müsst Ihr Euch irren« widerspreche ich.

      Abraham Lincoln setzt sich wieder, genauso bedächtig wie er aufgestanden war und erstarrt in Schweigen.

      Meine Gedanken drehen sich im Strudel des Begreifens, um im nächsten Augenblick von der Verwirrtheit wieder eingeholt zu werden. Lebe ich noch oder bin ich bereits tot? Wurde ich wiedergeboren? Nein, eine Wiedergeburt kann es nicht sein, ich weiß ja alles über mich, oder doch nicht?

      Dieser Lincoln, ein Präsident aus der Vergangenheit, der vorgibt sich an immer weniger zu erinnern.

      Wieso ist er hier? Wieso bin ich hier? Wo ist hier, eigentlich?

      Sagt er nicht die Wahrheit? Lügt er und ist er nur hier, um mich auszuhorchen? Oder ist er nur ein Trugbild meiner Phantasie?

      Nein, er ist nicht mein Feind. Ich bin mir absolut sicher, er ist mein Freund, wenn auch ein Freund, der immer mehr vergisst. Ich schäme mich für meine Gedanken, in denen ich über den erinnerungslosen Präsidenten schmunzle, eigentlich sogar herzhaft lache.

      Ich erinnere mich an seine Worte: Nur ich könne mich erinnern und dies sei im Land des Vergessens doch sehr ungewöhnlich. Ich bin alleine, bin der einzig Wissende, der doch nichts weiß und nichts begreift.

      Schmerzlich gestehe ich mir ein, meine Fragen sind nur zusammen mit meinem vergesslichen, neuen Freund zu beantworten.

      »Mister Präsident« starte ich einen neuen Versuch.

      Abraham Lincoln fällt mir ins Wort: »Nein, bitte nicht Präsident, nenne mich einfach Abraham.«

      Ich versuche ihm noch kurz zu erklären, ich hielte das nicht für angebracht, aber er erklärt mir: »Abraham ist völlig ausreichend, hier gibt es weder Rang noch Titel.«

      Im Grunde erleichtert, das mir - wenn ich ehrlich bin - ungeläufige „Sir“ weglassen zu können, setze ich mich näher zu ihm. Doch auch der persönliche Umgangston mit dem Präsidenten, den ich bereits als Kind für seinen aufopfernden Einsatz für die Schwächeren bewunderte, fällt mir schwer.

      Ich bitte ihn, mir alles über diesen seltsamen Ort zu erzählen.

      Schnell stelle ich aber fest, Lincolns Wissen über seine eigene Person, als erwachsener Mann, ist nicht sehr umfangreich oder er hat im Land des Vergessens tatsächlich alles vergessen; aber über dieses Land weiß er doch einiges.

      Er erzählt, außer mir hier noch nie einen anderen Menschen getroffen zu haben. Lincoln ist sich sicher, das Land ist grenzenlos und ein Mann könnte endlos wandern und doch kein Ende finden.

      Da war das Wort, das immer wiederkehrende Wort, das fortwährend meine grauen Gehirnzellen beschäftigt: Wandern, Wanderer. Auch Abraham sprach vom Wandern und er bestätigt die Endlosigkeit dieser seltsamen Welt.

      Liege ich mit meiner Vermutung gar nicht so falsch und vielleicht bin ich doch nicht verrückt?

      Aber wo bin ich dann?

      Besonders interessant, finde ich Lincolns Bemerkung über den See. Er ist sich sicher, das Tal und der See waren die Heimat seiner Kindheit. Die Beeren, die mein Überleben sicherten, waren als Kind seine Lieblingsfrüchte.

      Er erzählt mir begeistert bis in jedes Detail über die mit kleinen Walnussschalen ausgefochtenen Seeschlachten und wie er in diesem See seine ersten Schwimmversuche unternahm. Auch die kleine Bucht, in der wir jetzt zusammensitzen, verfolgte ihn sein ganzes Leben. Immer wieder zog es ihn an seine Bucht zurück, um Sorgen zu verarbeiten, um sich zu konzentrieren oder einfach nur, um an seinen Wurzeln festzuhalten. Auch seine erste Pfeife mit Tabak, den er seinem Großvater unterschlug, rauchte er mit Freunden unter diesen Bäumen.

      Lincoln erzählt mir noch viele Erlebnisse aus seiner Kindheit. Trotz mehrfachem Nachfragen kann er sich aber mittlerweile nicht einmal mehr an seinen Beruf als Rechtsanwalt erinnern. Ich versuche ihn noch einmal an sein Amt als Präsident zu erinnern, aber er würgt mich sofort im Ansatz ab.

      Fast unmerklich, schleichend bemerke ich seine immer einfacher werdende Sprache. Auch das Charismatische an seiner Person scheint verloren zu gehen. Oder täusche ich mich, da er mir so vieles aus seiner eigentlich ganz normalen Kindheit erzählt und nichts von dem, in Geschichtsbüchern gelehrten Meilensteinen seines Wirkens?

      Nein, schmerzlich muss ich die Wahrheit akzeptieren, er vergisst immer schneller. Seine Erinnerungen verblassen immer mehr, seine Sprache wird stetig langsamer, bis er schließlich ganz verstummt und einschläft.

      In eigene Gedanken versinkend, wache ich noch Stunden über dem schlafenden Präsidenten, bis ich selbst in tiefen Schlummer falle.

       6. Erkenntnis

      Der nächste Tag beginnt mit einem Schock.

      Mein Besucher, mein einziger Freund ist verschwunden. Sicher, eigentlich rechnete ich damit, aber trotzdem, die Wahrheit ist doch traurig.

      Langsam, meine Gedanken sortierend, suche ich vergeblich nach Spuren am Ufer und auch unsere Lagerstätte zeigt mir nur meine eigenen Spuren. Alle Abdrücke sind barfüssig oder profillos wie meine weichen Stiefel, also meine eigenen. Aber Abraham Lincoln trug Lederschuhe oder Stiefel mit dicken Sohlen, genau kann ich mich nicht mehr daran erinnern. Auf jeden Fall aber mit Absätzen, welche tiefe Spuren im feuchten Sand hinterlassen hätten.

      Nicht der kleinste Abdruck ist zu finden.

      Spielen mir das Alleinsein und die Einbildung einen Streich? Oder träume ich schon wieder?

      Nein, mein Besucher war real und ich bin wieder allein.

      Einsam, in einem Land in dem jeder vergisst, nur ich nicht. Im Gegenteil. Jeder Morgen ist wie der vergangene. Jeder Tag gleicht dem anderen. Jede Landschaft ist wie die gestrige.

      Doch ich erinnere mich jeden Tag an immer mehr. An meinen verhassten Job im Büro und an meinen Daimler. Ich erinnere mich sogar an meine Nachlässigkeit, die treue Kaffeemaschine nie zu entkalken.

      Die durchzechte Nacht liegt vor meinen Augen, als wäre es gestern gewesen. Die Enttäuschung,