»Darf ich jetzt weiterreden, verdammte Axt?«, fragte Tarlow und schaute Jack grimmig an. »Wir sind sofort zu ihr gelaufen und haben das Unheil mit eigenen Augen gesehen. Eine tote Maus lag vor dem Gebetshaus.«
Der Fremde nahm seinen Kopf zurück und zog die Augenbrauen zusammen. »Vor eurem Gotteshaus?«
Tarlow nickte. »Und jeder weiß, was ein totes Tier vor einem Gotteshaus bedeutet. Es ist eine Botschaft der Finsternis, ein Werk Schwarzer Magie.«
»Ich kenne ein Lied, das mit einer toten Maus anfängt und im Ewigen Feuer endet: ›Kalour, der Zügellose‹. Wird sicher nicht auf Hochzeiten gespielt.«
»Ist mir nicht bekannt. Jedenfalls haben wir die Maus sofort dort begraben. Nur die Götter wissen, ob das die richtige Entscheidung war.«
Der Fremde zuckte mit den Achseln.
»Geholfen hat es nicht«, fuhr Tarlow fort. »Am nächsten Tag lag ein toter Rabe vor dem Gebetshaus.«
Der Fremde riss die Augen auf, verschluckte sich und hustete. »Sicher, dass das nicht der Streich eines verzogenen Bengels war?«
Tarlow schüttelte den Kopf. »Kein Junge würde so etwas wagen.«
»Die Geschichten über tote Raben erstrecken sich über das gesamte Königreich. Sei es an der Eisküste im Nordwesten oder in der Roten Wüste im Südosten – überall ist man sich einig: Tote Raben vor der Tür bringen nichts als Unheil. Man sagt, sie beschwören die Pest herauf, bringen Berge zum Feuerspucken und die Erde zum Beben, bis ganze Schluchten in den Boden gerissen werden. Die Städte, in denen man sie gefunden hat, wurden angeblich zerstört, sei es durch Feuer, Blitzeinschläge, Steinhagel oder Monster, die aus der Erde kriechen.«
Wir schwiegen für eine Weile. Ein Windstoß heulte ums Haus und schmetterte das Türschild gegen die hölzerne Wand des Wirtshauses. Der Ritter zuckte bei dem Aufprall zusammen und drehte seinen Kopf zum Fenster.
»Das sind nur Geschichten«, sagte ich, während er langsam seinen Kopf zu mir drehte. »Alte Männer vorm Kamin brauchen diese Geschichten, um Kindern Angst einzujagen.«
»Ich werde diese Nacht jedenfalls mit einem offenen Auge schlafen«, sagte der Fremde, trank seinen Krug leer und stand auf.
»Das war noch nicht alles«, sagte Tarlow.
Der Mann schaute Tarlow verdutzt an.
»Am dritten Tag – das war heute – kam ein kleines Mädchen in unser Dorf, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt. Sie kam aus dem Wald heraus, allein. Sie trug ein rotes Kleid.«
»Und sie hatte schwarze Augen!«, brüllte Jack so laut, dass der Fremde sich ein weiteres Mal erschreckte. »Das Weiße in ihren Augen fehlte, sie waren einfach nur schwarz.« Er spuckte beim Reden. »Schwarz wie die Nacht und dreimal so groß wie normale Augen.«
»Ihr wisst, wer solche Augen hat«, sagte Tarlow.
»Zantul«, sagte der Fremde leise. Er griff nach dem Stuhl an seiner Seite und hielt sich daran fest. »Jeder weiß das.«
»Ganz recht«, sagte Tarlow, »der Gott der Finsternis.«
»Ein Diener Zantuls war in eurem Dorf?«
»Sie ist keine Dienerin Zantuls, nur weil sie ungewöhnliche Augen hat«, sagte ich. Aber der Fremde war von der Angst gepackt, und meine Worte gingen ohne Beachtung unter.
»Was hat das Mädchen gemacht?«, fragte er Tarlow.
»Zuerst setzte sie sich vor das Gebetshaus und summte Lieder. Sie hatte eine zarte Stimme, und ihre Melodien waren so lieblich wie aus dem Mund eines Minnesängers. Das passte nicht zu ihrem schrecklichen Gesicht. Wir versammelten uns um sie herum und starrten sie an. Sie dagegen wandte ihren Blick nicht von unserem Gebetshaus ab. Als wir sie ansprachen, fauchte sie uns an wie eine Katze. Nach einer Weile hörte sie auf zu summen und fing an zu sprechen. Sie sprach in Richtung des Gebetshauses, aber nicht mehr mit der Stimme eines Kindes. Ihre Stimme war tiefer als die eines Mannes, und sie röchelte, als steckte ihr ein Knochen im Hals. Außerdem …« Er hielt inne und beugte sich vor. Nun wisperte er: »… hörte ich ihre Stimme doppelt und dreifach, als spräche sie mit mehreren Zungen.«
Der Fremde japste. »Was hat sie gesagt?«
»Wissen wir nicht, ihre Sprache war uns nicht bekannt. Aber sie redete immer schneller und immer lauter, bis sie am Ende beinahe schrie. Dann hörte sie auf und ging zurück in den Wald. Keiner von uns hielt sie auf.«
Der Fremde fasste in seine Tasche und holte einen Beutel heraus. Mit zittrigen Händen versuchte er, ihn zu öffnen. Der Beutel fiel zu Boden. Hastig hob er ihn wieder auf und fummelte darin herum. Er holte eine Silbermünze heraus, knallte sie auf die Theke, steckte den Beutel wieder ein und ging zum Ausgang. »Ich verschwinde von hier!«, sagte er und öffnete die Tür.
Kalte Luft flutete das Wirtshaus und legte sich über meine Haut.
Tarlow sprang auf. »Ihr solltet nicht gehen! Denkt an die Wölfe!«
»Ich bleibe nicht hier. Euer Dorf ist verflucht, verdammt, verhext – nennt es, wie Ihr wollt! Zantul hat seine Hände über Euch gelegt.«
»Ich kann Euch versichern, unserem Dorf geht es gut«, sagte ich, doch wieder verhallten meine Worte unbeachtet.
»Ein zweites Mal lassen sich die Wölfe nicht vertreiben«, sagte Tarlow. »Im Schutz der Dunkelheit werden sie Euch auflauern.«
Der Mann holte tief Luft und nickte widerwillig. »Nachts kann ich mit dem Pferd nicht durch den Wald galoppieren.«
»Ganz recht«, sagte Jack. »Trinkt noch ein Bier mit uns, das beruhigt den Geist, har!«
Der Fremde schüttelte den Kopf. »Ich gehe schlafen und werde gleich beim ersten Sonnenstrahl aufs Pferd springen.«
Die Tür stand immer noch offen, ich ging hin und schaute hinaus. Die meisten Bewohner schliefen; lediglich in zwei Häusern sah ich noch Licht brennen. Die Baumkronen des Waldes raschelten im Rhythmus des Windes. Ansonsten bewegte sich nichts. Das Dorf zeigte sich beschaulich wie eh und je.
Ich führte den Fremden die Treppenstufen hoch und zeigte ihm sein Zimmer. Danach ging ich zurück in die Schankstube und bat die drei Kumpane zu gehen. Es war spät genug. Morgen würde ein langer Tag werden. Wir hatten geplant, am Abend ein großes Lagerfeuer zu entzünden und die Kinder ihr Lieblingsspiel Infernale spielen zu lassen.
»Früher hattest du länger geöffnet«, schimpfte Tarlow.
»Ich spüre noch Staub in der Kehle, das ist nicht gut für die Gesundheit, har!«, witzelte Jack.
Trotz ihrer Klagen erhoben sie sich und gingen nach Hause. Jorden folgte ihnen. Hätte er sich nicht verabschiedet, hätte ich beinahe vergessen, dass er überhaupt anwesend war – wie immer.
Ich schaute ihnen hinterher, wie sie die wenigen Schritte zu ihren Häusern gingen. Hoffentlich würde die Angst in ihnen nicht zu groß werden. Der Fremde hatte so reagiert, wie ich es befürchtet hatte: Ihn hatte die Panik ergriffen. Angst, Hass und Liebe sind die drei Gefühle, die des Menschen Geist in Nebel hüllen, und verängstigte Bewohner waren das Letzte, das unser Dorf gebrauchen konnte. Ich würde wachsam bleiben müssen.
Kapitel 4 (Salya)
Ich blieb auf dem Baumstumpf sitzen und beobachtete die Dorfbewohner am Lagerfeuer. Dorfkatze Shyla leistete mir Gesellschaft. Sie hatte ein braun-schwarz gestreiftes Fell mit langen, weichen Haaren. Mit ihren großen Augen schaute sie mich an und miaute.
»Was ist los, kleine Katze?«, fragte ich.
Erneut miaute sie als Antwort und starrte mich weiterhin fragend an. Als sie einsah, dass ich sie nicht verstand, streckte sie mir ihr Hinterteil entgegen und tapste davon.
Dumm wie ein Hund!, schien sie zu denken.
Jetzt