Als Internalist würde Kant die sekundäre Frage für die Begründung als sinnlos ansehen: Wer moralische Einsicht hat, ist immer auch moralisch motiviert und außerhalb der Moral gibt es keine für moralisch angemessenes Verhalten relevanten Gründe. Die Aussagen der Moral sind notwendig und hinreichend für moralisches Handeln. Es gibt nichts zu „überbrücken.“ In diesem Sinne vertritt er einen Internalismus. Hume teilt diese Auffassung nicht. (Bradley 1876, Kap. 2.)
Der Abschnitt hat eine Frage zur Überschrift. Aber er gibt keine Antwort. An diesem Punkt ist nur die Bedeutung der Frage präziser geklärt. Internalisten und Externalisten in der philosophischen Ethik unterscheiden sich selten in ihren Antworten auf die erste Frage: „Wie soll ich handeln?“ Moralisch teilen sie beispielsweise zumeist die These, dass Lügen schlecht ist. Sie unterscheiden sich lediglich in ihrer Deutung der Aufgabe einer philosophischen Begründung dieser Pflicht. Eine solche [[Moral vs. Ethik]] Theorie der Begründung ist die Ethik.
Eine Antwort auf die Frage dieses Abschnittes ist hier und in diesem Buch deshalb nicht möglich, weil sie die Entscheidung für eine Ethik voraussetzt. In diesem Kapitel kann sie also nicht gegeben werden, weil es hier noch nicht um eine Theorie der ethischen Begründung der Moral geht, sondern nur um die Reichweite der Ethik. In diesem Buch kann sie aber auch nicht gegeben werden, weil sich eine Einführung in die philosophische Ethik nicht auf einen bestimmten Ansatz der philosophischen Ethik festlegen darf, sofern das überhaupt das Ziel des Studiums der Ethik ist. So ist das begrenzte Ergebnis dieses Abschnittes: Internalisten und Externalisten in der philosophischen Ethik unterscheiden sich in ihrer Haltung zur sekundären Frage und somit in ihren Antworten auf die Reichweite der Ethik, insofern sie sich fragen, ob die Ethik als Begründung von Normen (und Werten) und Moral als Merkmal unserer Lebensform eine relevante externe Dimension von Gründen haben oder nicht.[< 32]
2.2 Dimensionen des Normativen und Evaluativen
In einer weiteren Hinsicht sind räumliche [[räumliche Metaphern]] Metaphern der Reichweite in der Ethik relevant. Die Reichweite der Ethik wird von einigen enger bestimmt als von anderen, insofern man den Fokus der Ethik auf die Frage nach dem beschränkt, was erlaubt, ge- oder verboten ist. Darüber hinaus gibt es Fragen nach dem guten und gelingenden Leben, die auf Vorstellungen vom Glück zielen. Manchmal wird die Ethik auch als Untersuchungsgebiet der Frage nach dem Glück definiert und die Moral als das der Pflichten bzw. Normen. Beide Untersuchungsgebiete können einen unterschiedlichen Umfang haben. (Vgl. Korsgaard 1996, Wedgwood 2007.)
[[Zwei Quellen für moralische Vorschriften]] Die Grenze soll kurz durch die Unterscheidung des Normativen und des Evaluativen bestimmt werden. Normen sind Regeln, Muster und Maßstäbe für Handlungen (von lateinisch norma = Richtschnur). Der Begriff des Evaluativen entstammt unserer Praxis des Wertens und Bewertens (von englisch to evaluate = errechnen, einschätzen). Beide Quellen ziehen wir im Alltag heran, wenn wir moralische Fragen zu klären versuchen.
[[(1) Normen]] Normen sind allgemeine Regeln, die für Handelnde gelten. Sie geben uns Muster vor, anhand derer wir Handlungen bewerten. Normen können einfach faktisch gelten, weil jemand sie setzt (z. B. DIN- oder ISO-Vorschriften). Ob Normen in der Moral gelten, hängt davon ab, ob man sie ethisch rechtfertigen kann. Das schon genannte Lügenverbot ist eines der Beispiele für eine Norm. Ein absolutes Lügenverbot kann man nur dadurch rechtfertigen, dass man Lügen als vernunftwidrig erweist. Wer lügt, begibt sich selbst in einen praktischen Widerspruch. Man sagt etwas (die Unwahrheit) und setzt zugleich voraus und tut selbst alles dafür, dass es als Wahrheit erscheint. Ein solcher praktischer Widerspruch gilt manchen auch als Vernunftwiderspruch und daher Lügen als verboten. Eine Rechtfertigung des Lügenverbotes ist natürlich viel komplexer, wenn man sie vollständig durchführt. Wichtig ist an dieser Stelle, dass ein Vernunftwiderspruch von allen vernünftigen Wesen erkannt werden kann und muss. Insofern kann die Norm des Lügenverbotes als allgemeinverbindlich gelten. (Vgl. Köhl 1993.)
[[(2) Wertungen]] Oft erscheint es uns aber als wertvoll, wissentlich die Unwahrheit zu sagen. (Nicht jeder ist von vornherein Kantianer!) Wenn man durch eine Lüge den Terroristen daran hindert eine Person zu töten, dann werden die meisten das als wichtig, gut und sinnvoll ansehen. (Kant 1797a, S. 422 ff.) Evaluativ erleben wir unser Lügen in der Situation zwar als vernunftwidrig, aber dennoch irgendwie erstrebenswert, weil der Tod einer Person eine schlimme Folge wäre, wenn wir den Terroristen nicht belügen. Der logische oder praktische Widerspruch ist unabhängig von [< 33] den Folgen einer Handlung zu erkennen. Wenn man die Folgen als moralisch irrelevant erweist, kann man das Lügenverbot als universale Norm begründen. Das ist aber damit verbunden, dass man die Aspekte der Werterfahrung (also des Evaluativen) ausblenden muss, die uns Notlügen als lässlich erscheinen lassen. Was als Notlüge gelten kann, ist viel weniger verallgemeinerbar und nicht so klar als Regel zu formulieren, als ein vernunftbegründetes Lügenverbot. Ein Grund hierfür ist, dass in unsere Werterfahrung auch kulturelle und individuelle Vorlieben eingehen, die nicht unbedingt verallgemeinerbar sind, aber unsere Praxis des Wertens und Bewertens dennoch prägen. (Wolf 1993, Wildt 1993.)
Dieser Unterschied führt zu zwei unterschiedlichen Strategien in der Ethik. Denn das Normative und das Evaluative unterscheiden sich weniger in ihrem vorschreibenden Charakter und in ihrer Verbindlichkeit als vielmehr in der Verallgemeinerbarkeit der Vorschriften. Wir erleben unser spezifisches Werterleben ebenso als bindend, wie universale Vernunft-Normen, deren Begründung wir verstehen. Und subjektiv erleben wir beides als moralische Leuchtzeichen. Unterscheidet man das Normative und das Evaluative in dem skizzierten Sinne, dann kann man unterschiedliche Strategien der philosophischen Ethik erkennen. Man kann die Moral auf das Normative einengen und in seiner Ethik so das Evaluative als Antwort auf Fragen des persönlichen Geschmacks oder des gelingenden Lebens erachten. Diese evaluativen Antworten erscheinen dann zwar subjektiv als verbindlich, müssen aber in ihrer Verbindlichkeit von der „echter“ moralischer Geltung unterschieden werden. Diese Überlegungen kann man nun verwenden, um zwei grundsätzliche Strategien der philosophischen Ethik zu unterscheiden:
[[die normativeStrategie der Ethik]] (1) Wenn man nun moralische Verbindlichkeit in der Ethik bloß als universale Normgeltung deuten möchte, muss man als Philosoph die Moral auf das Normative einschränken. Viele identifizieren die Moral dann überdies noch mit der Ethik. Das hat zur Folge, dass die nicht universalisierbaren Aspekte des Evaluativen zwar subjektiv ihren vorschreibenden (und bindenden) Charakter nicht verlieren, aber als externe und empirische Voraussetzungen oder pseudomoralische Ergänzungen der Moral entwertet werden (bspw. Höflichkeitsregeln, Ästhetisches, gutes Benehmen, Mode). Zur Moral gehören nur Geltungsansprüche eines bestimmten (normativen) Geltungscharakters, den man nur im Rahmen einer artikulierten Ethik versteht.
[[die evaluative Strategie der Ethik]] (2) Wenn man moralische Verbindlichkeit jedoch vom Evaluativen her deutet, kann man als Philosoph die Moral im Sinne unserer Praxis des Wertens und Bewertens verstehen. In dieser Praxis gäbe es dann den Bereich des Normativen, der möglicherweise anders geartet ist als andere Bereiche des Evaluativen. Denn der Geltungscharakter von Höf-[< 34]lichkeitsregeln und derjenige des Lügen- oder Tötungsverbotes unterscheiden sich in einem epistemisch subjektiven Sinne (sie fühlen sich anders an). Es gibt beispielsweise kategorische Wertungen und es gibt persönliche und veränderliche. Aber sie alle gehören gleichberechtigt zur Moral und damit zum Arbeitsfeld der philosophischen Ethik. Aber sie gehören differenziert gemäß ihrem jeweiligen (evaluativen) Geltungscharakter zur ihr.
[[Die Folgen dieses Gegensatzes: unterschiedliche Reichweiten der Ethik]] Man erkennt, dass auch bei diesen Überlegungen wieder räumliche Metaphern (intern/extern, und mehr oder weniger umfassende Bereiche) relevant werden. Insofern gehen diese Strategien der philosophischen Ethik von unterschiedlichen Reichweiten aus. Diese unterschiedlichen Reichweiten sind kein Problem der philosophischen Ethik allein, vielmehr spiegeln sich moralische Aspekte unserer Praxis des Wertens und Bewertens in den unterschiedlichen Strategien