Im Verlaufe dieses Buches und vieler anderer kann man sein Wissen über ethische Fragestellungen und Theorien der Begründungen von Antworten vertiefen. Insofern es sich um eine philosophische Fachdisziplin handelt, muss man einen solchen Lernprozess vom „wirklichen Leben“ unterscheiden. Dann, wenn man Fragen praktischer Orientierung hat, die ernsthaft sind, stellen sich zwei [[Persönliche Reichweite in der Ethik]] persönliche Fragen.
Zum einen muss man sich fragen, wie allgemein das Problem praktischer Orientierung ist, über das man nachdenkt. [[(1) Allgemeinheit: verbindliche vs. verständliche]] Man stelle sich vor, man sei schwanger und ein Schwangerschaftsabbruch erscheine aus persönlichen Gründen nötig, auch wenn es andere persönliche Gründe gibt, die dagegen sprächen. (Man möchte eigentlich Kinder haben, aber aus einigermaßen nachvollziehbaren Gründen nicht zu diesem [< 38] Zeitpunkt.) Was soll man tun? Nun, an dieser Stelle geht es gerade nicht um die Antwort im primären Sinne, sondern darum was die Ethik macht, wenn sie uns über Norm- und Wertfragen und über moralische Begründung belehrt. Geht es darum, eine allgemeinverbindliche Antwort zu finden? Oder geht es um eine persönliche Antwort, die insofern allgemein ist, als die Gründe, mit denen man sich rechtfertigen könnte, für andere verständlich sind?
Die meisten – Philosophen und Nicht-Philosophen – meinen, dass es um allgemeinverbindliche Antworten (alle bindende Normen) geht. Vielleicht sind zumindest einige Fragen der praktischen Orientierung aber persönlicher und es geht nur um allgemein-verständliche Antworten? Denn, selbst wenn man Abtreibung persönlich missbilligt, kann man doch die Gründe anderer, die sie für sich billigen, bisweilen und bis zu einem gewissen Grade nachvollziehen. Dass man in der Ethik viel zu leichtfertig dazu neigt, moralische Fragen unpersönlich zu stellen, merkt man am [[Wertewandel]] Wertewandel: Viele früher hoch gehängte (normativ universale) Fragen der Sexualmoral, werden heute zwar immer noch (evaluativ) als moralische Fragen angesehen, aber nicht mehr als solche, in die man anderen über Ratschläge hinaus (normativ) hineinregieren dürfe.
Zum [[(2) Theorie vs. Praxis]] anderen muss man sich fragen, worüber man verfügt, wenn man in der philosophischen Ethik eine Antwort auf Begründungsfragen der Moral bekommt. Wird man durch die ethischen Kompetenzen im Verlaufe des Ethikstudiums ein besserer Mensch? Radikal formuliert: Kann man ein neues „Auschwitz“ verhindern, wenn man an den Schulen Ethik zum Pflichtfach macht? Die Frage hat zwei unterschiedliche Aspekte.
Zum einen können wir Wissen erwerben, müssen dann aber noch lernen es umzusetzen; zum anderen geht es in der Ethik vielleicht nur um Theorien der Begründung, mit denen man sich „rein akademisch“ beschäftigt. Zwei Analogien sollen eine Reflexion über die Reichweite des Lernens ermöglichen: Wenn man Sportwissenschaft studiert, weiß man, was es heißt, ein Marathonläufer zu werden und wie man trainieren muss; aber man muss das Gewusste noch einüben, sonst erreicht man die Ziellinie nicht. Und wenn man in der Physik den Urknall versteht, kann man ihn deshalb nicht selbst auch erzeugen. Manches Wissen und manches Lernen ist reine Theorie ohne das Ziel eines unmittelbaren praktischen Nutzens.
[[Pessimismus, Optimismus, Idealismus des Ethikers]] Die Analogie zur Physik erscheint vielleicht zu radikal skeptisch. Wenn man physikalisches Wissen über den Urknall hat, führt dieses möglicherweise zu technischem Fortschritt, der für uns alltägliche Bedeutung bekommen könnte. Für die Frage nach der Reichweite der Ethik bedeutet diese Analogie: Dass Einsicht in die philosophische Ethik überhaupt keinen Fortschritt im Sinne der Tugend bewirkt, scheint zu [< 39] pessimistisch zu sein. Denn unsere moralischen Reaktionen können artikuliert und verstanden werden. Und eine Ethik kann hier für den einzelnen einen praktischen Kompetenzgewinn darstellen. Die Analogie zur Sportwissenschaft erscheint dagegen zu optimistisch. Denn fast alle Menschen können mit dem richtigen Trainingsprogramm erfolgreiche Marathonathleten werden. (Man muss es nur richtig durchziehen.) Für die Frage nach der Reichweite der Ethik bedeutet dies: Dass die Ethik alle Menschen zu guten Menschen machen würde, ist eine unrealistische Erwartungshaltung an die Philosophie. Denn in praktischen Fragen kann man kaum auf eindeutige Rezepte oder sichere Trainingsprogramme hoffen. Vielleicht ist das Studieren der Ethik weniger als ein Trainingsprogramm und mehr als reine Theorie. Aber, dass man durch die Beschäftigung mit der Ethik Auschwitz hätte verhindern können, erscheint hoffnungslos idealistisch. Die Reichweite der Ethik liegt also auch irgendwo zwischen zu Viel und zu Wenig Idealismus, Pessimismus und Optimismus. Wo man sich diesbezüglich verortet, hängt vom persönlichen (pädagogischen, spirituellen und politischen) Eros ab.
Fragen und Anregungen
Sehen Sie sich erneut die Überschriften dieses Kapitels an und erläutern Sie kurz, inwiefern die Reichweite der Ethik jeweils erörtert und inwieweit sie präzisiert wird.
Wenn sie die sekundäre Frage (Warum soll ich moralisch handeln?) stellen, inwiefern sind die Gründe, die als Antwort dienen können, nicht-moralische?
Machen Sie sich Gedanken darüber, weshalb es einen Zwischenraum zwischen Ihrer moralischen Erkenntnis und Ihrem Handeln geben kann.
Machen Sie sich Gedanken darüber, warum es sinnvoll ist, dass es außerhalb der Moral Gründe gibt, die für die Frage, was man tun soll, relevant sind.
Warum sollten moralische Gründe universal gelten?
Indem Sie dieses Buch lesen, studieren Sie philosophische Ethik. Warum sollten Sie durch Ihren Erkenntnisgewinn bessere Menschen werden? (Überlegen Sie sich positive und negative Gründe.)
Lektüreempfehlungen
Habermas, Jürgen: Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft, in: ders., Erläuterun-[< 40]gen zur Diskursethik, S. 100-118, Frankfurt am Main 1991. Habermas stellt die klassischen Optionen des Normativen und des Evaluativen dar und bestimmt ihr Verhältnis zur Moral im Sinne unterschiedlicher Reichweiten.
Williams, Bernard: Der Begriff der Moral, Kap. 1: Der Amoralist, Stuttgart 1978. Und: Singer, Peter: Praktische Ethik, Kap. 8, 2. Aufl., Stuttgart 1994. Beides sind mittlerweile klassische Texte zur sekundären Frage.
Bradley, Francis Herbert: Ethical Studies, Essay 2, 2. Aufl., Oxford 1927. Der Text ist der klassische Startpunkt der Diskussion über die sekundären Frage und Bradley ist der Auffassung, dass sie sinnlos ist.
Peters, Richard Stanley: Moral Development and Moral Learning und Burch, Robert, Are there Moral Experts?, in The Monist, 1974 (Heft 4). Das Heft widmet sich der Frage der moralischen Erziehung.
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3 Non-Kognitivismus
Abbildung 3: GEHORCHE KEINEM, Babak Saed (Eine Skulptur aus menschengroßen roten Buchstaben an der Universitätsbibliothek in Münster)[< 43]
Bei der Annäherung an die Universitätsbibliothek in Münster bemerkt man zunächst riesige, knall-rote Buchstaben. Sie ziehen uns in ihren Bann, weil man sich denkt, was da wohl an der Fassade geschrieben steht – „Universitätsbibliothek“ jedenfalls nicht. Man nähert sich dem Glasbau und beginnt zu lesen „KEINEM.“ Was macht das für einen Sinn? Man sucht links von der Kante des Gebäudes nach mehr und geht deshalb am Eingang vorbei. Hier liest man „GEHORCHE.“ Der Besucher erahnt zögernd ein Kunstwerk.
Angenommen das Kunstwerk bannt Sie vor Ort als Betrachter durch die Farbe, die Ausmaße der Buchstaben und die Wortfragmente. Es zwingt Sie, sich zu nähern. Es zwingt Sie, hin und her zugehen, um sich den Sinn