Felsenmond. Jasmin Adam. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jasmin Adam
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742711908
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Kleid angezogen hatte, lackierte Hanna ihr die Nägel, während Sausan begann, mit viel Haarspray und Goldglanz ihre langen Haare zu kunstvollen Nestern auf dem Kopf zusammenzustecken. Dann nahm sie eine Dose mit weißem Make-up und cremte Latifa damit so dick ein, dass ihre Hautfarbe schließlich mehr der einer Chinesin glich als der einer Araberin. Für das Schminken brauchte Sausan eine ganze Weile, aber als sie endlich fertig war und Latifa den Spiegel vorhielt, erkannte diese sich selbst kaum wieder. Sie sah so fremd aus! Wie eine glitzernde zierliche Elfe, die sich aus einer anderen, besseren Welt hierher in dieses staubige, gottverlassene Dorf verirrt hatte. Jetzt nur nicht weinen, dachte sie, tapfer sein! Irgendwie wird schon alles gut, ich muss einfach nur Allah vertrauen. Ob Allah sich allerdings überhaupt für sie interessierte? Sie hatte wohl kaum ein Anrecht darauf, irgendetwas von ihm zu erwarten, denn sie war in ihren Gebeten manchmal nachlässig gewesen und kannte auch kaum einen Koranvers auswendig.

      Doch Zeit zum Grübeln blieb Latifa nun nicht mehr. Das Trommeln und Singen war näher gekommen und schon wurde sie von ihren Freundinnen vorangeschoben, durch ein unglaubliches Gedränge im Treppenhaus hindurch, hoch zu dem Raum, in dem vorhin noch die Männer gesessen hatten. Diese waren inzwischen mit ihrem Qat in ein Nachbarhaus umgezogen und hatten diesen größten Raum für die Frauen freigegeben. Aischa hatte am Kopfende des Raumes aus Kissen liebevoll einen kleinen Thron für Latifa aufgebaut, zu dem sie nun unter lauten Segensgesängen, begleitet vom scheppernden Trommeln auf großen Blechschalen, geführt wurde. Der Diwan war voll von Frauen jeden Alters, vom Säugling bis hin zur Urahne saßen sie in bunter Mischung teils nebeneinander, teils beinahe übereinander auf dem Boden. Nur direkt vor Latifa wurden ein bis zwei Quadratmeter freigehalten, auf denen nun je zwei Frauen miteinander die traditionellen Tänze aufführten. Alle Anwesenden schienen sich ausgelassen über die spontane und unerwartete Gelegenheit zum Feiern zu freuen. Keine im Raum schien sich Gedanken zu machen, wie es Latifa zumute war, außer Aischa und vielleicht den Cousinen. Stattdessen hatte ein jede sich fröhlich beeilt, ein glitzerndes Kleid aus irgendeinem Sack oder Karton hervorzuholen, und die Verheirateten unter den anwesenden Frauen hatten stolz ihre goldenen Armreifen und Ketten angelegt und sich farbenfroh geschminkt.

      Latifa saß auf ihrem Thron, ihr Kopf dröhnte und in ihrem Nacken bildeten sich kleine Schweißperlen. Sie wusste nicht, wohin sie blicken sollte, denn sie fühlte sich von allen Seiten begutachtet und beobachtet. Krampfhaft versuchte sie, nicht weiter über ihre Situation nachzudenken, denn sie fürchtete sich davor, öffentlich die Beherrschung zu verlieren. Doch es gelang ihr nicht, den dicken Kloß in ihrer Kehle hinunterzuschlucken. Selbst die Kleinsten der Nachbarmädchen wetteiferten darin, der Braut möglichst nahe zu sein. Sie zupften bewundernd an den Spitzen des Kleides und versuchten, Latifas Frisur zu berühren. Dankbar für diese Ablenkung nahm Latifa schließlich die kleine schmuddelige Rahmana auf den Schoß, steckte ihr Gesicht in die zerzausten Haare des Kindes und atmete dankbar ihren vertrauten, etwas säuerlichen Geruch ein. „Oh Allah“, flüsterte sie, „sei mir gnädig!“

      Die Stunde

      Es war noch dunkel, als der Gebetsruf der nahen Moschee Sausan aus unruhigem Schlaf weckte. Was hatte sie eben geträumt? Latifa war in dem Traum vorgekommen, aber Sausan hatte ihre Botschaft nicht verstehen können, denn die Cousine hatte in einer fremden Sprache gesprochen. Dann war Latifas Gesicht plötzlich immer kleiner geworden, wie zusammengeschmolzen ... Sausan versuchte die Fäden der seltsamen Geschichte, in die sie eben noch verstrickt gewesen war, zu entwirren, doch sie entglitten ihr. Da streckte auch schon ihre Mutter den Kopf zur Tür herein.

      „Los, Mädchen, hopphopp, aufstehen!“

      Sausan reckte sich gähnend und gab der neben ihr liegenden Hanna einen kleinen Knuff. „Hörst du? Zeit zum Aufstehen, du Schlafmütze!“

      Inzwischen wurde es im Osten schon hell. Schlaftrunken stand Sausan auf, ging in das kleine Bad, öffnete den Wasserhahn neben dem Stehklo und ließ kaltes Wasser in einen Eimer laufen. Eben wollte sie mit der morgendlichen Waschung beginnen, als ihre Schwester an der Tür rüttelte.

      „Sausan, lass mich rein! Yalla, mach schon auf!“

      „Na warte!“, murmelte Sausan, öffnete ihrer jüngeren Schwester die Tür und begrüßte sie grinsend mit einem kräftigen Spritzer kalten Wassers.

      Hanna hatte aber offensichtlich mit etwas Derartigem gerechnet und war sicherheitshalber rasch einen Schritt zur Seite getreten, sodass der Spritzer nicht sie, sondern die Mutter traf, die gerade im Flur vorbeiging.

      „Schluss jetzt, ihr Mädchen! Was ist das für ein Unsinn!“, polterte diese halb lachend, halb schimpfend. „Auf, wascht euch, betet und macht dann das Frühstück! Los jetzt!“

      Gehorsam wuschen sich Sausan und Hanna nun Gesicht, Hals, Hände und Unterarme, dann Füße und Unterschenkel, so wie es der islamische Ritus vorschreibt. Unter dem frischen kalten Wasser zog sich ihre Haut prickelnd zusammen und die feinen dunklen Härchen auf ihren Unterarmen stellten sich zitternd auf. Rasch zogen die Mädchen ihre langen weißen Gebetsgewänder an, rollten die Gebetsteppiche gen Mekka aus und verrichteten leise murmelnd ihre Gebete.

      Sausan studierte seit zwei Jahren am städtischen College Englisch, um Lehrerin zu werden. Nachdem sie die Schule mit sehr guten Noten abgeschlossen hatte, war es ihr nicht schwergefallen, die Eltern zu überzeugen, sie auf das College zu schicken. In ihrem Bekanntenkreis gehörte es inzwischen sogar fast zum guten Ton, Töchter studieren zu lassen. Noch bis vor wenigen Jahren wäre das eine große Ausnahme gewesen! Tatsächlich war auch Sausans Mutter, wie die meisten Frauen ihrer Generation, eine Analphabetin. Doch auch sie erhoffte sich für ihre Töchter durch das Studium eine bessere Zukunft und mehr Unabhängigkeit.

      Wie immer schien die Sonne von einem strahlend blauen Himmel, als Sausan später das Haus verließ und sich auf den Weg zum College machte. Tief atmete sie die frische Bergluft ein. Wie gerne hätte sie die Luthma, ihren Gesichtsschleier, gelüftet, um die Sonne auf der Haut zu spüren! Es würde heute wohl wieder ein heißer Tag werden, aber jetzt war es noch angenehm frisch. Sausan blieb stehen und ließ ihre Blicke schweifen. Sicherlich wird bald die Regenzeit beginnen, überlegte sie, dann wird der Regen endlich den Staub von Felsen, Bäumen und aus der Luft waschen, die Berge werden sich in ihr grünes Sommergewand kleiden und wir werden uns alle wie neugeboren fühlen! Sausans Blick folgte den schmeichelnden Konturen der sich bis zum Horizont hin staffelnden Bergketten. Ein wunderschönes Land!

      Wenn es nach ihr ginge, würde Sausan auf ihrem täglichen Weg zum College gern alleine die Stille und Einsamkeit genießen und ihre Gedanken frei fliegen lassen, aber stattdessen machte sie auch heute wieder ihren kleinen Abstecher, um Malika, eine Mitstudentin, abzuholen. Das war zwischen den Familien so vereinbart worden, denn es wäre unschicklich für ein Mädchen, täglich alleine zum College zu laufen. Schließlich könnte sie dann ja auf die Idee kommen, sich unterwegs mit fremden Männern zu treffen, und das würde den Ruf der ganzen Familie zerstören! Sausan seufzte. Immer dieser Argwohn! Aber sie war zu fast jedem Kompromiss bereit, solange sie nur studieren durfte. Das Englischstudium machte Sausan viel Spaß. Und es lieferte ihr obendrein einen willkommenen Vorwand, um zu Hause die amerikanischen Serien zu schauen, welche sich über Satellit empfangen ließen: Sie musste schließlich ihr Hörverständnis verbessern! Doch vor allem bot ihr das Studium der englischen Literatur die Möglichkeit, sich mit Gedanken und Weltbildern auseinanderzusetzen, die ihrem eigenen Erfahrungshorizont so weit entrückt schienen wie – ja, wie der Osten vom Westen. Sausan musste schmunzeln. Sie hatte sich immer schon gefragt, wie das überhaupt Sinn machen sollte, die Himmelsrichtungen auf einer Kugel festzulegen. Wenn man von seinem Standpunkt aus immer weiter gen Osten wanderte, so käme man doch irgendwann von Westen her wieder an denselben Ausgangspunkt zurück, oder etwa nicht?! Vielleicht war das ja mit den Traditionen, Philosophien, Religionen auch so? Wenn sie immer und immer weiter entlang derselben Linie dachte, wo käme sie dann letztendlich an? Auch auf der entgegengesetzten Seite?

      Sausan liebte solche kleinen Gedankenspiele, sie wusste aber auch, dass sie vorsichtig sein musste und sich nicht zu weit in die Welt ihrer Gedanken hineinwagen durfte. Denn sonst stieß sie unweigerlich innerhalb von kürzester Zeit an eine Mauer von Tabus, und dieses Gefühl frustrierte sie dermaßen, dass sie manchmal Angst