„Und?“, fragte Malika, als sie zur nächsten Vorlesung gingen. „Du hattest es ja sehr eilig damit, diesen Amerikaner kennenzulernen. Hoffen wir, dass es deshalb keinen Ärger gibt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Manchmal verstehe ich dich wirklich nicht. Du weißt doch, wie schnell das Getratsche losgeht.“
„Ich wollte doch nur höflich sein“, antwortete Sausan schnippisch. „Immerhin ist er ein Gast in unserem Land, dann wird man ihn doch wohl willkommen heißen dürfen, oder? Außerdem hast du dich ja viel mehr mit ihm unterhalten als ich!“ Ohne auf eine Antwort Malikas zu warten, fuhr sie fort: „Also, ich finde es toll, dass wir jetzt von einem Amerikaner unterrichtet werden! Wie er wohl auf die Idee kam, ausgerechnet in unsere kleine Stadt zu kommen? Ich würde nie aus Amerika wegziehen und freiwillig im Jemen leben, wenn ich die Wahl hätte.“
„Was sagst du denn da!“, empörte sich Malika. „Amerika ist ein Land von Teufeln! Hast du denn vergessen, dass die mit Israel unter einer Decke stecken und die Palästinenser, ja die Muslime insgesamt bekämpfen, wo sie nur können? Wer weiß, weshalb der hierhergekommen ist. Vielleicht ist er ja ein Spion?“
Sausan lachte. „Das glaubst du doch wohl selbst nicht. Was soll er denn hier bei uns schon ausspionieren?“
Malika wiegte nachdenklich den Kopf, dann fügte sie hinzu: „Aber seine Frau, diese Sally, die werde ich trotzdem mal besuchen. Kommst du mit?“
„Ach was, wirklich?“ Sausan blieb erstaunt stehen. „Eben sind sie noch Spione und jetzt willst du sie besuchen? Warum denn das? Etwa, um wieder über Religion zu sprechen?“
„Ja, genau“, antwortete Malika bestimmt.
Als Sausan einige Stunden später alleine aus dem Collegegebäude trat, sprach sie plötzlich jemand vorsichtig von hinten an: „Sausan? Entschuldige bitte, könnte ich dich vielleicht einen Moment sprechen?“
Sausan drehte sich überrascht um und wollte schon eine unwirsche Antwort geben, als sie einen Kommilitonen erkannte. Der schmächtige junge Mann, der seiner Kleidung und dem Dialekt nach aus einem der entfernteren Stammesgebiete kam, sah Sausan schüchtern von der Seite an. Statt zu antworten, schaute sie ihn nur fragend an. Gleichzeitig spulten sich in ihrem Kopf automatisch all die Warnungen ihrer Mutter ab, die ihr stets untersagt hatte, sich auf irgendwelche Gespräche mit Männern einzulassen.
„Entschuldige, dass ich dich anspreche, Sausan. Aber ich dachte ... weißt du, ich muss für ein paar Tage in mein Dorf zu einer Hochzeit in der Verwandtschaft, und ich dachte, nun, ich könnte dich vielleicht mal anrufen, damit du mir die Englischhausaufgaben sagst? Ich möchte nicht alles versäumen.“
Sausan runzelte die Augenbrauen, die einzige Mimik, die man selbst bei einer verschleierten Frau noch erkennen kann. „Wieso rufst du nicht einen der anderen Studenten an? Was bildest du dir denn ein? Denkst du etwa, ich bin ein unanständiges Mädchen? Schäme dich! Ich komme aus einer guten Familie und ich gebe meine Telefonnummer nicht an Männer.“ Mit diesen Worten drehte sie sich beinah übertrieben deutlich um und wollte eben stolz erhobenen Hauptes davongehen, als der junge Mann wieder an ihrer Seite war und es nochmals versuchte.
„Bitte, Sausan! Mit den Jungen, das habe ich schon mal versucht, das klappt einfach nicht! Die passen nicht richtig auf und bekommen nur die Hälfte der Aufgaben mit und davon sagen sie mir dann wiederum nur die Hälfte weiter. Das ist dann nur ein Viertel!“
Sausan musste unwillkürlich lachen. Irgendetwas gefiel ihr an diesem Jungen. Zumindest schmeichelte ihr seine Hartnäckigkeit. Sie blieb noch mal stehen, wiederholte aber, dass sie ihm ihre Telefonnummer unmöglich geben könne.
Bekümmert schaute er zu Boden. Dann entschuldigte er sich ein drittes Mal und beteuerte, er habe sie nicht beleidigen wollen.
In diesem Augenblick traten ein paar Mädchen aus der Tür, und Sausan schoss ein Gedanke durch den Kopf, den sie ohne weiter zu überlegen sofort umsetzte. Sie ging zwei Schritte auf eines der Mädchen zu und sagte laut: „Hallo, Nadja! Bitte ruf mich doch heute Nachmittag an, meine Nummer ist 733596422, falls du es vergessen hast. 733596422.“
Das angesprochene Mädchen reagierte etwas verwirrt: „Entschuldige, ich bin nicht Nadja, du musst mich verwechseln.“
„Oh“, antwortete Sausan, „na, so was. Nadja hat genau denselben Balto wie du.“ Damit drehte sie sich um und ging, ohne den jungen Mann eines weiteren Blickes zu würdigen, zügig nach Hause.
Einige Wochen später befanden sich Sausan und Malika gemeinsam im Suq. Sie hatten für den Unterricht etwas kopiert und wollten nun die Gelegenheit nutzen, um endlich Mr Williams Frau zu besuchen. Seit ihrem ersten Gespräch mit dem Amerikaner hatte sich Sausan zurückgehalten, aber gerade heute hatte der Lehrer die beiden Mädchen noch mal angesprochen: „Besucht doch mal meine Frau! Sie spricht kaum Arabisch und freut sich sicher sehr, mit jemandem zu reden, der so gut Englisch kann wie ihr.“ Das Kompliment hatte Sausan gefallen. Die meisten Jemeniten konnten allerdings auch wirklich nicht mehr als ein paar Brocken Englisch, sie hatten ja auch keine Gelegenheit, die Sprache anzuwenden. Von ihrem Bruder hatte Sausan jedoch kürzlich erfahren, dass in einer bei Touristen beliebten Kleinstadt nördlich von Sana'a etliche junge Männer und Frauen gleich mehrere Sprachen gut beherrschten, und das nur durch den Umgang mit den ausländischen Gästen. Ja, Fremdenführer zu sein, das stellte Sausan sich toll vor! Immer wieder mit unterschiedlichen Gruppen ausländischer Touristen kreuz und quer durch das Land zu reisen und ihnen Tradition, Kultur und Architektur dieses abwechslungsreichen Landes nahezubringen, das musste wirklich schön sein! Aber auch dies war wieder so ein aussichtsloser Traum. Solch einen Gedanken auch nur zu äußern, würde Sausan schon Schläge von ihrem Bruder einbringen: Frauen gehörten ins Haus. Ende der Debatte.
Im Suq fragte Sausan kurzerhand ein kleines Mädchen in blauer Schuluniform, ob sie das Haus der Al-Sayyidis kenne, in dem Ausländer wohnten.
„Aber sicher“, erwiderte die Kleine, „das kennt doch jeder! Kommt, ich führe euch hin.“
„Vielen Dank, Allah segne dich“, verabschiedeten sie sich wenig später von ihrer Führerin. Malika und Sausan standen nun in einer Nebenstraße vor einem großen dreistöckigen Gebäude. Es musste noch recht neu sein, denn es war außen ganz mit weißen Natursteinen verkleidet, nur um die Fenster und die Tür hatte man einen schwarzen Stein gewählt. Dieser Stil hatte sich erst in den letzten Jahren durchgesetzt. Bis vor Kurzem war es noch üblich gewesen, die Häuser aus dunkelgrauem Stein zu bauen und nur Fenster und Türen mit weißem Stein zu umrahmen. Die Eingangstür zum Treppenhaus stand offen und die beiden jungen Frauen traten ein. Sie hatten vergessen zu fragen, in welchem Stockwerk die Ausländer wohnten, gingen aber davon aus, dass es der oberste und neueste Stock sei, der traditionell auch der prestigereichste war. Als sie jedoch die Treppe hochgingen, stellten sie schnell fest, dass der mittlere Stock wohl der richtige sein musste, denn hier hingen schon im Treppenhaus bunte Drucke an der Wand, auf dem Fenstersims stand eine Kübelpflanze und an der Tür hing ein von Kinderhand gemaltes Schild: „Welcome!“
Plötzlich fühlte sich Sausan etwas unwohl. Sollten sie wirklich einfach so an diese fremde Tür klopfen? Sie hatte nicht einmal ihre Eltern oder ihre Schwester in das Vorhaben eingeweiht! Aber Malika schien sich ihrer Sache sicher zu sein und übernahm die Führung, indem sie einfach dreimal fest gegen die Tür pochte. Einen Augenblick später öffnete sich diese und Mr Williams selbst stand vor ihnen. Als er die zwei verschleierten Gestalten sah, rief er sofort nach seiner Frau und verschwand, ohne die Mädchen auch nur zu begrüßen. Sicher hat er uns gar nicht erkannt, dachte Sausan. Aber es war ja auch sehr anständig, dass er sich so zurückhielt. Da erschien auch schon eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm, dicht gefolgt von einem kleinen blonden Mädchen.
„Herzlich willkommen! Ich bin Sally. Kommt doch herein!“
Nachdem die beiden Mädchen sich vorgestellt hatten, folgten sie der Frau in das Wohnzimmer.
Sausan schaute sich aufmerksam um. Obwohl viele der Einrichtungsgegenstände typisch jemenitisch waren, war der