„Latifa, endlich. Wo hast du nur gesteckt? Wir sind doch noch gar nicht fertig, Kind! Schnell, die Tomaten müssen gerieben werden, die Hilbe ist noch nicht geschlagen und dein Vater wird jeden Augenblick eintreffen!“ Die Mutter zeigte mit hochgezogenen Augenbrauen auf die Tomaten, wischte sich mit dem Handrücken rasch den Schweiß von der Stirn wandte sich dann gleich wieder dem Brot zu.
Latifas Vater kam stets nur an den Wochenenden nach Hause und dann musste alles perfekt sein. Er war ein angesehener Mann im Dorf, da er als stolzer Besitzer eines kleinen Geländewagens Lebensmittel, Menschen und Tiere vom Dorf in die Stadt transportierte und umgekehrt. Außerdem hatte der Vater einen Teil seiner Jugend in der Provinzhauptstadt bei Verwandten verbracht und dort sogar ein paar Jahre die Schule besucht. Weil er deshalb nicht nur eine ganze Reihe von Koransuren auswendig konnte, sondern auch ein wenig zu lesen und schreiben verstand, hatte man ihn im Dorf sogar zum Vorbeter erkoren.
Latifa hatte ihren Vater jedoch noch nie lesen oder schreiben gesehen. Was sie sah, war der strenge Blick, mit dem er die Mutter tadelte, wenn das Essen nicht rechtzeitig fertig wurde. Und was sie sah, war der Beutel voller Qat, den er ihr wortlos zuwarf, damit sie die Blätter gründlich reinige, bevor er sie am Nachmittag in der Runde der Männer einzeln vom Stängel pflückte, zusammenrollte und in seine Backe schob, um sie dann stundenlang zu kauen, hin und wieder den bitteren grünen Speichel in einen der bereitstehenden Spucknäpfe spuckend – welche wiederum Latifa später am Abend zu reinigen hatte.
Die Woche über arbeitete der Vater als Taxifahrer in der Stadt, von wo aus er dann Donnerstagmittags mit voll beladenem Pick-up-Truck hupend ins Dorf zurückkam. Ungeduldig erwartet von einer bunten Horde kleiner Kinder, die aufgeregt um das Auto herum wuselten und mit großem Hallo die mit den Wocheneinkäufen nach Hause kommenden Väter begrüßten. Jede der kleinen Hände wollte helfen etwas zu tragen, um irgendwie dem Reichtum nahe zu kommen, der in Säcken, Tüten und dreckigen Tüchern verpackt zwischen den Männern auf der Ladefläche gestapelt war. Nicht selten stellte jemand dann zu Hause fest, dass etwas, von dem er sicher war, es gekauft zu haben, sich einfach nicht mehr in der Tasche finden ließ. Und manchmal bekam eine der vielen Tüten plötzlich einen Riss und im Nu hatten die kleinen schmutzigen Kinderhände die Bananen, Tomaten oder Gurken aus dem Staub gefischt und kleine nackte Füße waren triumphierend hinter dem nächsten Felsen verschwunden.
Felsen, die gab wahrlich es genug in Latifas Dorf. Wie ein Adlerhorst klebte es hoch oben an der Flanke einer der vielen schroffen Berggipfel, welche diese Gegend prägten. Ein trockener Wind fegte den Staub durch die schmalen Pfade zwischen den kleinen aus roh behauenen Natursteinen gemauerten Häusern, aus deren windschiefen, aus alten Brettern oder flach gehämmerten, aneinander genagelten Blechbüchsen zusammen gezimmert Türen, Esel oder Schafe hinaus blickten. Dieses Dorf war arm, genauso wie alle anderen Dörfer in der Umgebung auch. Jedes ohne Strom, ohne Wasser, ohne Laden, ohne Schule. Die ganze Woche über gab es hier nur Frauen, viele barfüßige kleine Kinder, ein paar alte Leute und nur ab und zu einen verlorenen Mann, der ohne Arbeit und Würde so unsichtbar war, dass es keinem Risiko gleichkam, ihn mit all den Frauen alleine zu lassen.
Wie die meisten anderen Frauen aus Sharqi war auch Latifas Mutter Amina schon in eben diesem kleinen Adlerhorst aufgewachsen. Sie hatte als junges Mädchen Ziegen gehütet, Wasser in Kanistern aus dem Tal herauf geschleppt, im Sommer mit einer Sichel das dürre Gras von den steilen Hängen geschnitten, trocknen lassen, zu Heuschnüren geflochten und nebenbei ihre vielen Geschwister versorgt. Nach ihrer frühen Heirat ging es gerade so weiter, mit dem kleinen Unterschied, dass sie nun nicht mehr im Elternhaus, sondern in dem der Schwiegereltern lebte. Und, worin die wesentliche Veränderung bestand, dass sie nun abends nach getaner Arbeit nicht mehr einfach müde auf die dünne Matratze sinken konnte, sondern ihrem Mann noch zur Verfügung zu stehen hatte. Damit dieser, wie es schon im Koran heißt, seinen Acker bestellen konnte.
Latifa war das dritte von acht Kindern. Ihre beiden älteren Schwestern waren mit Cousins aus einem Nachbardorf verheiratet, und auch für sie hatte der Vater schon mehrfach Heiratspläne geschmiedet. Bisher waren seine Pläne jedoch stets daran gescheitert, dass die Mutter dann immer gerade wieder schwanger gewesen war, und auf Latifas Hilfe nicht verzichten konnte.
Mit flinken Händen nahm Latifa jetzt einen großen flachen Stein zwischen den Blechnäpfen und Schalen hervor, ging in die Hocke, spülte den Stein rasch mit etwas Wasser ab und begann dann geschickt, Tomaten, Knoblauchzehen, etwas Salz und ein Stück Chilischote mit Hilfe einer zweiten Steinwalze zu zerdrücken und miteinander zu vermengen. Das so entstandene Sahawiq, eine fruchtig scharfe Tomatensoße, wurde in kleinen Mengen mit dem Reis und den in Sauermilch eingelegten Hirsepfannkuchen gegessen. Oder man tunkte einfach frisches Brot in die würzige Tomatensoße hinein. Lecker!
Jetzt ertönte draußen das erwartete Hupen und Latifa vernahm zeitgleich ein Trappeln vieler kleiner nackter Füße. Sie lächelte. Ob der Vater diesmal wohl etwas Besonderes mitgebracht hatte? Zum Beispiel Trauben? Die Traubenzeit sollte doch allmählich begonnen haben! Latifa liebte es, diese kleinen grünen oder blauen Bällchen in den Mund zu schieben, sie dort zwischen Zunge und Gaumen genüsslich zu zerdrücken und ihren süßen Saft die Kehle hinunter rinnen zu lassen! Inzwischen hatte sie das Sahawiq in kleine Blechschüsseln gefüllt und war nun dabei, mit kräftigen Handbewegungen aus dem gequollenen Pulver der Bockshornkleesamen einen festen gelblich-weißen Schaum zu schlagen. Dieser bittere Schaum, die Hilbe, würde dann zum Schluss auf die mit etwas Gemüse angereicherte Fleischbrühe gegeben und als letzter Gang mit Brot gegessen werden. Ohne Hilbe war eine Mahlzeit hier in den Bergen des Nordjemen undenkbar!
So, die letzten Handgriffe waren getan. Mutter und Tochter, die in ihren schwarzen, oben eng anliegenden und unten weiten Kleidern und der ebenso schwarzen Kopf- und Gesichtsverschleierung kaum voneinander zu unterscheiden waren, warteten in der Küche, während die Stimmen und das Gepolter im Treppenaufgang verriet, dass der Vater Besuch mitgebracht hatte. Fragend schauten die Frauen einander an. Ob die Menge des vorbereiteten Essens für Gäste reichen würde?
Da kam auch schon Ahmed hereingestürmt, diesmal nicht als würdevolle Autorität, sondern ganz kindlicher Enthusiasmus: „Papa hat Onkel Hussein mitgebracht und Tante Fatima! Sausan und Hanna sind auch dabei, außerdem noch drei andere Männer und eine alte Frau. Und sie haben ganz viele große Taschen!“ Ahmed strahlte und war schon wieder verschwunden, bevor Mutter oder Schwester noch etwas hätten fragen können.
„Oh Allah!“, stöhnte die Mutter besorgt, „woher sollte ich das nur wissen? Für so viele Leute reicht unser Essen doch nie! Latifa, du musst sofort zu Aischa hinüberlaufen und sie bitten, uns zu helfen! Nimm den Hinterausgang, damit dich keiner sieht! Und beeile dich! Yalla – mach schon!“
Latifa nickte und eilte davon. Die Freude ihres Bruders hatte sie angesteckt: Tante Fatima und die Cousinen! Wie lange war es schon her, seitdem sich die Verwandtschaft auf den beschwerlichen Weg in ihr Dorf gemacht hatte! Wahrscheinlich hatte sie ihre Cousinen das letzte Mal bei der Hochzeit ihrer Schwester gesehen, und die hatte inzwischen schon zwei Kinder! Wie Sausan und Hanna jetzt wohl aussahen? Und was sie für Kleider trugen? Ob sie sich noch immer so gut verstehen würden? Und wie lange sie zu bleiben gedachten? Ruckzuck hatte Latifa ihrer Freundin Aischa die Situation geschildert, die kurzerhand ihr eigenes Brot und ihren Topf Reis mitnahm und wiederum ihre Schwägerin losschickte, um noch mehr Nachbarfrauen zu verständigen. So viel war klar: Heute würde das Haus aus allen Nähten platzen! Denn wenn auch alle Nachbarinnen bereitwillig kamen, um zu helfen, so kamen sie doch auch, um mitzuessen, zu bleiben und teilzuhaben an der Abwechslung, die ein Besuch aus der Stadt mit sich brachte.
Als Latifa gerade in die Küche zurückhuschen wollte, fing ihr Vater sie ab. Er grüßte kurz, hielt sie am Arm fest und musterte seine Tochter kritisch. Dann sagte er: „Geh und wasch dich, Latifa, du bist ja voller Ruß! Zieh dir etwas Sauberes an und begrüße dann deine Tante und die Frauen,