Felsenmond. Jasmin Adam. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jasmin Adam
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783742711908
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die Hadithe, gemeinsam mit dem Koran als Richtschnur für alles Leben und Handeln der Menschen anzusehen seien. Nur in einer Gesellschaft, in der diese Gebote genau befolgt würden, könne man in Gerechtigkeit und Frieden leben. Sally schien diesem Dialog nicht abgeneigt zu sein, ganz im Gegenteil ging sie interessiert auf Malikas Aussagen ein, stellte jedoch auch Gegenfragen. Als Malika argumentierte, Sally solle doch Muhammad als dem zeitlich späteren Propheten mit der neueren und deshalb gültigeren Botschaft nachfolgen, wiegte Sally zweifelnd ihren Kopf. Dann forderte sie Malika heraus, sich vorzustellen, es erscheine jetzt plötzlich in China oder Indien ein Mann mit dem Anspruch, Allahs neueste Botschaft zu verkünden. Er errege in seinem Umkreis viel Aufmerksamkeit und versammele eine wachsende Anhängerschaft um sich. Seine Botschaft decke sich in etlichen Punkten mit der des Koran und er akzeptiere sogar Muhammad als früheren Propheten. Doch gleichzeitig behaupte dieser neue Prophet, fünf tägliche Gebete seien nicht genug, man müsse zu jeder vollen Stunde ein Gebetsritual vollziehen. Außerdem erlaube er die Mehrehe auch für Frauen, sodass jede Frau bis zu vier Ehemänner gleichzeitig haben könne, solange sie bereit sei, mit allen vieren abwechselnd Brot und Bett zu teilen. Ja, und er verkünde, es sei eine Sünde, Tiere zu töten, um deren Fleisch zu essen. Das Fleisch verendeter Tiere oder Menschen zu verzehren, sei dagegen nicht nur zulässig, sondern empfehlenswert. Malika und Sausan mussten beide lachen und verzogen angeekelt die Gesichter.

      „Das ist doch absurd“, rief Malika. „Natürlich würde ich einem solchen Propheten nie mein Vertrauen schenken, warum auch? Ich bin Muslimin und von der Wahrheit des Koran überzeugt!“

      „Siehst du“, antwortete Sally und lächelte verschmitzt. „So einfach ist das nämlich nicht mit dem ‚letzten Propheten‘, wie du es eben dargestellt hast. Als Muhammad vor 1400 Jahren auftauchte, da haben die Christen sich seine Botschaft angehört, sie geprüft und mit ihrer Bibel verglichen. Und viele sind zu dem Entschluss gekommen, dass sie keinen Grund sehen können, anstelle von Jesus nun an Muhammad zu glauben. Denn Jesus hat ein vorbildliches Leben geführt, indem er sich der Schwachen und Verachteten annahm. Und wir Christen glauben, dass er durch seinen unschuldigen Tod am Kreuz für unsere Schuld bezahlt hat.“

      „Nein, Jesus ist nicht am Kreuz gestorben!“, erwiderte Malika sofort. „Im Koran steht das ganz anders und Allah hätte das auch nie zugelassen. Da haben wir wieder einen Beleg für die Verfälschung der Bibel!“

      Oh weh, dachte Sausan, das kann ja noch lange so weitergehen! Unter anderen Umständen hätte auch sie Spaß an einer solchen Diskussion gehabt, aber nach der Sms von Walid hatte sie keine innere Ruhe mehr und drängte zum Aufbruch.

      Nachdem Sausan Malika zu Hause abgeliefert hatte, ging sie nicht direkt nach Hause, sondern machte einen Abstecher in eine Seitengasse, in der ein Rohbau stand. Dort schaute sie sich kurz nach allen Seiten um und schlüpfte dann schnell durch die offene Mauer und um zwei Ecken, wo es einen Winkel gab, der weder von der Straße, noch von einem der Nachbarhäuser her einsichtig war. Hier roch es zwar nach Urin, aber das war Sausan jetzt egal. Sie konnte nicht bis in die Nacht warten, um mit Walid zu sprechen, und auf offener Straße zu telefonieren, war undenkbar. Schnell holte sie das Handy aus der Tasche und tippte eine kurze Nachricht. Dann wartete sie. Normalerweise rief Walid immer schnell zurück, denn für einen Mann war es kein Problem, sich jederzeit zum Telefonieren zurückzuziehen. Aber diesmal hatte Sausan nun schon zehn Minuten gewartet und dann zum dritten Mal bis hundert gezählt. Eigentlich hätte sie schon längst gehen wollen, gehen müssen! Endlich klingelte das Telefon.

      „Hallo?“, fragte sie atemlos.

      „Hallo, Sausan“, antwortete Walid. Seine Stimme klang fremd, gepresst. „Ich habe ein großes Problem: Mein Onkel ist gestorben, ein Unfall.“

      „Oh.“ Sausan spürte eine gewisse Erleichterung, „Allah sei ihm gnädig. Das tut mir leid. Dann musst du jetzt bestimmt ins Dorf raus, oder?“

      „Da bin ich schon längst. Das ist nicht das Problem. Das Schlimme ist, dass die Kinder meines Onkels noch sehr klein sind und nun alle von mir verlangen, dass ich als ältester Neffe seinen Qathandel weiterführe. Stell dir das vor, Sausan! Sie erwarten, dass ich mein Studium abbreche und ab sofort jeden Tag die frischen Qatladungen zum nächsten Markt fahre und dort verkaufe!“

      „Wie bitte?“, fragte Sausan. „Das kann doch wohl nicht wahr sein! Warum denn du? Das ist doch verrückt!“

      „Ja, das finde ich auch. Aber glaube mir, Sausan, sie meinen es absolut ernst. Das ist kein Spaß! Als ich mich weigern wollte, ist mein Vater dermaßen wütend geworden, dass er mich tatsächlich mit seiner Kalaschnikow bedroht hat! Er ist total ausgerastet, hat auf mich eingeprügelt, mich einen faulen Hund genannt und mir seine Sandale ins Gesicht geschlagen. So habe ich ihn noch nie erlebt.“ Walids Stimme zitterte. „Und niemand hat mich verteidigt, Sausan! Sie sind alle auf der Seite meines Vaters, alle. Sogar meine Mutter!“ Sausan konnte ihn leise schluchzen hören.

      „Allah“, flüsterte sie, „ich hasse diese verbohrten Erwachsenen. Wie ich sie alle hasse! Deine Eltern, meine Eltern, alle! Was sollen wir denn nur tun?“

      „Ich weiß es nicht“, sagte Walid. „Ich kann jetzt auch nicht weiterreden, sie rufen schon wieder nach mir. Bitte bete für mich, Sausan. Das Schlimmste ist, wenn ich hier bleiben muss, werde ich dich nicht mehr sehen können! Und das halte ich nicht aus, eher bringe ich mich um. Ich liebe dich, Sausan! Ich kann nicht ohne dich leben!“ Sausan hörte durch das Telefon, wie Walid aus dem Hintergrund gerufen wurde. Er flüsterte ihr nur noch zu, dass er Schluss machen müsse, und schon hatte er aufgelegt.

      Sausans Hände zitterten. Sie meinte, keine Luft mehr zu bekommen. Am liebsten hätte sie einfach nur laut losgeschrien und auf irgendetwas eingeprügelt. Das kann doch nicht wahr sein!, dachte sie. Und was hat er eben gesagt? Er liebt mich! Doch wann werden wir uns wiedersehen? Werden wir uns überhaupt je wiedersehen? Und was, wenn er sich etwas antut in seiner Verzweiflung? Oder wenn er mit seinem Vater so in Streit gerät, dass es zu Mord und Totschlag kommt? Oh, wenn ich doch keine Frau wäre, dann könnte ich mich jetzt in ein Auto setzen und einfach zu ihm fahren! Immer nur abwarten zu müssen, passiv zu sein, das ist furchtbar! Sausan zwang sich, tief durchzuatmen. Sie musste unbedingt die Fassung bewahren. Gleich würde der Abendgebetsruf ertönen, dann musste sie zu Hause sein, sonst würde es dort auch Ärger geben. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich zusammenzureißen und schnell nach Hause zu gehen. Dort würde sie Kopfschmerzen vortäuschen, vielleicht könnte sie dann schon bald ins Bett. Einfach nur alleine zu sein, in Ruhe nachdenken zu können, wenn ihr wenigstens das gegönnt würde!

      Niemand schien Notiz von ihr genommen zu haben, als sie wieder auf die Straße zurückhuschte und sich schnell auf den Heimweg machte. Doch als Sausan wenige Minuten später zeitgleich mit dem Erschallen des Gebetsrufes den Hausflur betrat, spürte sie sofort, dass auch hier dicke Luft herrschte. Ihre Schwester Hanna rollte nur mit den Augen, ihre Mutter knetete wie eine Besessene im Brotteig herum und dann ertönte auch schon Faisals Stimme aus dem Nebenzimmer.

      „Ist das Sausan? Sie soll sofort kommen!“

      Sausan schlüpfe aus den Schuhen und nahm den Gesichtsschleier ab. Das hatte jetzt noch gefehlt.

      „Faisal ist gekommen, ist etwas passiert?“, fragte sie ihre Schwester im Vorübergehen.

      „Nein, er hat hier etwas zu erledigen. Pass auf, er ist sehr wütend“, flüsterte diese zurück und drückte Sausan kurz die Hand.

      Nur ruhig bleiben, sprach sich Sausan selbst Mut zu und trat mit unschuldiger Miene in das Zimmer, in dem Faisal und der Vater saßen, beide mit dicken Backen, jede Menge entblätterte Qatstängel vor sich auf dem Boden verstreut. „Friede sei mit dir, Faisal, wie geht es dir?“, begrüßte Sausan betont gelassen erst Faisal und dann ihren Vater: „Herzlich willkommen, hast du Urlaub bekommen?“

      Faisal ging jedoch auf die Begrüßung nicht ein. Er war für jemenitische Verhältnisse groß und kräftig, hatte kurz geschnittene schwarze Haare und, wie die meisten Jemeniten, einen schmalen Oberlippenbart. Seine Gesichtszüge waren ebenmäßig und angenehm, doch seine Augen zeigten keinerlei Emotionen, und wenn man ihn doch einmal lächeln sah, so war es meist Spott, der ihn dazu reizte. Jetzt blickte er Sausan streng,