„Nur etwas für Idioten“, brummte Christian lakonisch und zog weiter.
Ihr fiel es allerdings schwer, sich von diesem traumhaften Anblick zu lösen. Wehmut flackerte auf und die Sehnsucht nach einer intakten Beziehung.
„Hallo, von wem träumst du?“
„Von niemandem ...“, antwortete sie wahrheitsgemäß.
Inzwischen waren sie im oberen Stockwerk angekommen und Christian stieß die Tür zu einem Zimmer auf.
„Na, wie findest du es?“
Das antike Mobiliar passte perfekt zu diesem Schloss. Welche Geschichte es wohl zu erzählen hatte?
„Das ist unsere Suite für die Nacht“, verkündete er mit einem Anflug von Stolz.
Triumphierend sah er sie an und ihr wurde schlagartig übel. Warum hatte sie nicht beizeiten klargestellt, dass eine gemeinsame Übernachtung für sie nicht mehr infrage kam?
„Eigentlich möchte ich wieder zurückfahren“, erklärte sie zaghaft.
Sein Lächeln erstarb augenblicklich. „Wie darf ich denn das verstehen? Erteilst du mir jetzt eine Absage?“
Ihr Blick wanderte zu den Betten, Gott sei Dank getrennt. Dennoch befand sie sich in einer Zwickmühle. Wenn sie im Schloss bliebe, müsste sie sich mit Christian arrangieren, aber in ihrem winzigen Apartment würde ihr nur die Decke auf den Kopf fallen.
„Ich habe schlichtweg vergessen, Zahnbürste und Handtücher einzupacken“, versuchte sie sich aus der Affäre zu ziehen.
„Kein Problem, die Sachen findest du im Bad. Was hältst du von einem Spaziergang?“
„Gern.“
Inzwischen war die Mittagszeit vorüber und ihr Magen rumorte. Doch Christian schien das wenig zu beeindrucken und er zog die Tür geräuschvoll hinter sich zu.
„Ich muss mich nur noch umziehen, du kannst in der Lobby auf mich warten.“
Er machte auf dem Absatz kehrt und ließ sie einfach stehen. Schulterzuckend lief sie nach unten. Die Hochzeitsgesellschaft war gerade angereist und belegte in der Lobby sämtliche Sitzgelegenheiten. Das lebhafte Treiben und die ausufernde Geräuschkulisse wurden Julia mit der Zeit zu viel und sie wich in einen der Flure aus, um die Ölgemälde zu betrachten. Sie mochte die Werke der damaligen Epoche und schaute verträumt auf die abgebildeten Landschaften.
Augenblicklich beschlich sie das Gefühl, auch hier nicht allein zu sein. Sie drehte sich um und entdeckte am Ende des Ganges ein Mädchen, welches nur mit einem dünnen Sommerkleidchen bekleidet war. Scheu senkte es den Blick und starrte auf seine Schuhspitzen. Wie konnten die Eltern nur so etwas durchgehen lassen? Das Kind musste doch in diesem Aufzug frieren.
„Hallo“, grüßte Julia freundlich. „Ist dir denn gar nicht kalt?“
Das Mädchen schüttelte verneinend den Kopf und ihre blonden Locken wippten.
„Aber du wirst dich bestimmt erkälten. Willst du dir nicht lieber eine Jacke holen?“
Unsicher schaute die Kleine in Julias Richtung.
„Hast du dich vielleicht verlaufen, sollen wir deine Eltern suchen?“
Julia streckte lächelnd ihre Hand aus. „Na komm, wir gehen gemeinsam zurück.“
Verschüchtert drehte sich das Mädchen um und lief davon. Die Absätze ihrer schwarzen Lackschuhe klackerten über die Steinfliesen.
„So warte doch!“, rief Julia ihr hinterher und nahm die Verfolgung auf. Sie bog rasant um die Ecke und prallte mit der Stirn gegen eine Tür. Dieses plötzlich auftauchende Hindernis hatte sie ausgebremst und leise fluchend drückte sie die Klinke herunter. Die Tür ließ sich nicht öffnen und ungläubig linste Julia durch das Schlüsselloch. Wohin konnte das kleine Mädchen nur so schnell verschwunden sein, noch dazu durch eine verschlossene Tür?
Ratlos stand sie da und massierte sich die schmerzende Stirn. Mit Sicherheit war es besser, der Hochzeitsgesellschaft gleich Bescheid zu geben, bestimmt vermissten die Eltern das Mädchen schon. Ohne viel Zeit zu verlieren, eilte sie zur Lobby zurück und wandte sich an die Gäste.
„Ist Ihnen vielleicht ein kleines Mädchen abhandengekommen? Dünnes Sommerkleid, blonde lockige Haare und etwa sieben Jahre alt?“
Alle Anwesenden schüttelten die Köpfe, sie hatten die eigenen Kinder zu Hause gelassen. Julia startete an der Rezeption noch einen letzten Versuch. Verwirrt blätterte Christians Chef in den Unterlagen und teilte ihr mit, dass nur zwei ältere Ehepaare angereist waren, ohne Enkelkinder im Schlepptau.
Ratlos wandte sie sich ab. Wahrscheinlich hätte sie sich weniger den Kopf darüber zerbrochen, wenn das Mädchen nicht in einem altmodischen Sommerkleid verschüchtert im Flur gestanden hätte. Jemand tippte ihr auf die Schulter und erschrocken wirbelte sie herum.
„Ach, du bist es …“
„Ja, ich bin es. Sag mal, was hast du denn wieder verzapft? Die Leute sind in heller Aufruhr wegen eines Mädchens, das angeblich vermisst wird.“
„Nein, das stimmt nicht so ganz. Ich bin einem Mädchen begegnet und dachte, es hätte sich im Schloss verirrt.“
„Vielleicht war es ein Kind aus dem Dorf? Die Gören schmuggeln sich hier ständig rein.“
„Ich bitte dich, das Mädchen hat ein dünnes Sommerkleidchen getragen. Wie soll es denn bei diesen Temperaturen hierhergekommen sein? Irgendetwas stimmt da nicht.“
„Woher willst du das wissen?“, fragte er skeptisch. „Kannst du dich vielleicht daran erinnern, wie das Mädchen ausgesehen hat? Kleid, Haare …“
„Hm, das Kleid war geblümt, das Haar lockig und blond. Außerdem trug es schwarze Lackschuhe.“
„Ist dir sonst noch etwas aufgefallen?“
„Nicht dass ich wüsste. Warum fragst du? Kennst du das Mädchen vielleicht?“
„Ich? Nein. Kinder sind mir suspekt.“
„Ach ja? Du vertrittst manchmal Ansichten über das Leben …“ Julia schüttelte verständnislos ihren Kopf.
„Entschuldige, dass ich deine Vorhaltungen unterbreche, aber ich habe etwas Wichtiges vergessen. Ich bin gleich wieder zurück.“
Christian ließ sie erneut stehen und stürmte davon. So ein eigensinniges Verhalten hatte sie selten erlebt, er war anscheinend völlig verquer. Abermals musste sie auf ihn warten und trat ungeduldig von einem Bein auf das andere. Das Personal, welches durch die Gänge eilte, musterte sie neugierig und Julia fühlte sich wie ein exotisches Tier im Zoo. Es musste sich rasend schnell herumgesprochen haben, zu wem sie gehörte.
Nach einigen Minuten tauchte Christian wieder neben ihr auf, er hatte sich tatsächlich beeilt.
„Und? Hast du gefunden, wonach du gesucht hast?“
Irritiert blickte er sie an. „Wie bitte?“
„Du bist doch eben zurückgegangen, weil du etwas vergessen hast, soweit ich mich erinnere.“
Sie suchte seinen Blick, doch er wich ihr aus. Allerdings wirkte er sehr erleichtert.
„Alles vollständig. Können wir jetzt?“
Julia zuckte mit den Schultern. „An mir hat es nicht gelegen.“
Er brummte ein paar unverständliche Worte in seinen Dreitagebart und lief nach draußen. Mit ihm an ihrer Seite umrundete sie erneut das Gebäude. Der Ball war inzwischen verschwunden und sie fragte sich, ob er wohl dem Mädchen gehörte.
„Wir haben richtiges Glück, dass sich noch die Sonne zeigt. Ich kenne eine Stelle, von der man eine wunderschöne Aussicht hat.
„Na dann, worauf warten wir noch.“ Julia eilte erwartungsvoll voraus.