Fehlte nur noch Christian.
Am besten, sie fragte an der Rezeption nach ihm. Der Mann, der sich gerade mit einem Gast unterhielt, musste Christians Chef sein. Eine Dauerwelle aus den Achtzigern zierte sein Haupt und wie eine behäbige Matrone schob er den gewaltigen Bauch vor sich her. Mit strenger, fast verkniffener Miene schien er alles im Griff zu haben. Der Gast hatte sich inzwischen getrollt und so stand sie ihm gegenüber.
„Ich bin hier mit Herrn Dahler verabredet. Wissen Sie vielleicht, wo ich ihn finden kann?“
Sie wurde kritisch beäugt und einmal durch den Fleischwolf gedreht, bevor der Chef ihr eine Antwort gab. „Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen, aber Sie können in der Lobby Platz nehmen und auf ihn warten.“
„Vielen Dank.“
Nun saß sie in einem der roten Sessel und studierte gelangweilt die Wände. Christian blieb weiterhin unauffindbar und so langsam wurde sie wütend. Warum veranstaltete er erst so ein Theater, wenn er sie anschließend doch warten ließ? Nach zwanzig Minuten gab sie auf und beschloss, die Außenanlage zu besichtigen. Wenn er dann immer noch nicht aufgetaucht war, würde sie wieder fahren. Alles hatte seine Grenzen.
Julia erhob sich und lief nach draußen. Gemächlich umrundete sie das Schloss und schlenderte durch die Miniaturausgabe einer Parkanlage. Nach wenigen Metern lag ein roter Ball mitten auf dem Weg, den musste wohl ein kleiner Gast vergessen haben. Der Ball hatte seine besten Tage schon hinter sich, so zerschrammt und ausgeblichen, wie er war. Trotzig kickte Julia ihn auf die Wiese. Momentan fühlte sie sich hier völlig deplatziert und ihre Wut auf Christian wuchs von Minute zu Minute.
Nachdem sie eine Weile durch den Park spaziert war, kehrte sie zurück. Inzwischen hatte sie von den aufgestellten Infotafeln erfahren, dass es sich um ein ehemaliges Kloster handelte. Wahrscheinlich wurde aus marketingtechnischen Gründen ein Schloss daraus gemacht. Klang ja auch ziemlich gewöhnungsbedürftig – Klosterhotel.
Tief in ihre Gedankenwelt versunken stoppte sie plötzlich ihre Schritte. Hatte sie nicht eben diesen alten, verblichenen Ball auf die Wiese gekickt? Jetzt lag er genau an derselben Stelle wie zuvor. Suchend schaute sie sich um, aber niemand befand sich in ihrer Nähe. Fröstelnd schlug sie den Mantelkragen hoch und eilte mit schnellen Schritten auf den Eingang zu.
Christian saß bereits in der Lobby und wartete auf sie. Nervös wippte er mit einem Bein und schaute demonstrativ auf die Uhr.
„Wo hast du denn gesteckt? Ich warte schon eine Ewigkeit auf dich.“ Vorwurfsvoll sah er sie an.
„Du warst doch derjenige, der mich hat warten lassen“, erwiderte sie ungehalten. „Ich habe mir aus purer Langeweile die Parkanlage angeschaut.“
Christians Chef lugte mit seinem Lockenkopf vorsichtig um die Ecke und schien sich während seines Lauschangriffes prächtig zu amüsieren.
„Lass uns das woanders ausdiskutieren“, blaffte Christian und schob sie in Richtung Restaurant. Das Frühstücksbuffet wurde gerade abgedeckt und es duftete noch immer nach gebratenem Speck. „Eigentlich wollte ich mit dir gemeinsam frühstücken, aber wie du siehst, die Speisen werden abgeräumt.“
„Tut mir leid, aber du hast mit keiner Silbe erwähnt, wo du mich in Empfang nimmst.“
„Entschuldige bitte, ich bin seit sechs Uhr auf den Beinen und da kann ich doch wohl erwarten, dass du Rücksicht nimmst.“
„Aber das ist doch nicht meine Schuld. Warum bist du nicht Lehrer geworden?“, konterte sie, um ihn in seine Schranken zu verweisen. Er hatte sich schließlich für diesen Beruf mit den belastenden Arbeitszeiten entschieden und nicht sie.
„Momentan magst du ja ein lockeres Studentenleben führen, aber später wird dir das Lachen noch vergehen.“
Aus diesem Mann wurde sie einfach nicht schlau, Liebenswürdigkeit und schlechte Laune wechselten sich ständig ab. Julia holte tief Luft und verteidigte ihren Berufswunsch.
„Ich habe mich für das Lehramt entschieden, weil ich Kinder mag und sie fördern möchte, und nicht, weil ich das Studentenleben so easy finde. Außerdem ist es mein gutes Recht, in Ruhe auszuspannen, wenn ich frei habe.“
„Ist ja schon gut, wir sollten lieber den restlichen Tag planen. Hast du Lust, mal einen Blick in die Küche zu werfen?“
Hatte sie nicht, aber sie wollte kein Öl ins Feuer gießen. Wie passend, dachte sie mit einem Hauch von Ironie.
„Gerne, ich bin schon gespannt, wo du dich kulinarisch austobst.“
Er nickte wohlgefällig, sie hatte anscheinend seinen Nerv getroffen und trottete ihm brav hinterher. Die Stufen hinunter in den Keller, dann wieder aufwärts und schon standen sie in der Küche. Laute Rapmusik dröhnte aus einem Radio und eine der älteren Küchenfrauen gackerte mit den jungen Köchen über einen derben Witz. Julia schüttelte den Kopf, dieses Küchenpersonal war schon ein neckisches Völkchen.
Christian umfasste ihre Schultern und schob sie nach vorn.
„Das ist Julia, sie studiert Lehramt.“
Was war denn plötzlich nur in ihn gefahren, dass er sie wie eine Trophäe vorführte? Erst beschwerte er sich über ihr ausschweifendes Studentenleben und jetzt brüstete er sich damit, dass sie sich für den Beruf einer Lehrerin entschieden hatte.
Julia erkannte es sofort an den ausbleibenden Reaktionen seiner Kollegen: Christian war hier so beliebt wie Fußpilz. Kaum einer schenkte seinen Worten Beachtung oder nahm von ihm Notiz. Stattdessen wurde die Musik leiser gedreht und die eben noch spürbar gute Laune war schlagartig verebbt.
Christian ließ Julia einfach stehen und erkundigte sich bei seinem Stellvertreter, ob die Vorbereitungen für die Hochzeit auf Hochtouren liefen. Aufmerksam beobachtete sie die beiden Männer. Ricardo erinnerte sie an ein unterwürfiges Wiesel, so dünn und schmalbrüstig, wie er durch die Küche huschte. Seine Brille hatte ein sehr unvorteilhaftes Gestell, er roch unangenehm nach Schweiß und um es auf den Punkt zu bringen - Ricardo war ihr total unsympathisch.
Yannick und Daniel hingegen, die beiden Auszubildenden, fand sie richtig nett. Yannick alberte herum und Daniel schien bereits über das nötige Fachwissen zu verfügen, so geschickt wie er die Häppchen arrangierte. Jungkoch Leon, ein gut aussehender und ziemlich cooler Typ, warf ihr lüsterne Blicke zu, während sich die dralle Servicekraft an ihn schmiegte. Julia lächelte - was für ein Möchtegerncasanova.
Christian führte sich unterdessen in der Küche wie ein Befehlshaber auf und schien überhaupt nicht zu bemerken, wie sich das Personal heimlich anstieß und genervt mit den Augen rollte. Die Mitarbeiter wollten ihren Chef am liebsten wieder von hinten sehen. Aber es dauerte noch eine Weile, bis er sich endlich abwandte.
„Wir können gehen“, forderte er Julia auf und es war ihr eine Freude, die heiligen Hallen zu verlassen.
„Essen wir hier einen Happen zu Mittag?“, fragte sie.
„Nein, ich habe gerade gefrühstückt“, lautete seine knappe Antwort.
Er entschied also über ihren Kopf hinweg, wann gegessen wurde, was für ein Gentleman. Christian konnte sehr anstrengend sein und nervte bisweilen.
„Soll ich dir das Hotel zeigen? Einige Räume können sich durchaus sehen lassen.“
„Gern, ich habe ja sonst nichts vor.“
Neugierig folgte sie ihm. Vorbei ging es an einer kleinen Bar, an deren Wänden sich die Prominenz mit gerahmten Fotos verewigt hatte. Sie staunte nicht schlecht, wer hier schon alles abgestiegen war. Ihr gefiel auf Anhieb, wie Modernes und Antikes miteinander kombiniert worden war. Besonders die Bibliothek hatte es ihr angetan und am liebsten hätte sie stundenlang darin gestöbert, aber Christian räusperte sich ungeduldig.
Der