Er schob die Mappe von sich weg und dachte nach. Hinter vergilbten Gardinen fristete ein Topfasparagus ein unbeachtetes Alibi-Dasein und die Fotos an der Wand zeigten Fußballmannschaften aus den sechziger und siebziger Jahren. Darüber hingen Wimpel. SC Schwerin stand auf dem einen, auf einem anderen Anker Wismar. Darunter war ein stilisierter Anker. Daneben hing eine verblichene Schwarzweiß-Fotografie des Gasthauses, zwei Linden rahmten das Gebäude. Im Eingang standen ein dicker Mann mit weißer Schürze und eine kleine dünne Frau in schwarzem Kittel, an deren Bein sich ein kleiner Junge schmiegte. Ein Familienbetrieb. Eine vergrößerte Ausgabe des kleinen Jungen brachte große Portionen Hering mit Bratkartoffeln. Er wünschte guten Appetit und verschwand in der Küche. Wolf Lindau aber fühlte sich aufs Kreuz gelegt und das lag nicht am Brathering.
Er ging bislang selbstverständlich davon aus, dass er es wäre, der die Entscheidungen über sein Leben traf. Das war eine grandiose Fehlannahme, wie er jetzt klar erkennen musste. Es waren andere, die sein Leben strukturierten. Ganz vorne stand dabei seine Frau. Sie hatte ihn glatt aufs Kreuz gelegt, einfach so, ansatzlos. Ihn, der so oft andere führte, dass er auf den Gedanken, selber von jemandem gelenkt zu werden, gar nicht kam. Er hatte es nicht kommen sehen, zu sicher hatte er sich gefühlt. Katharina war eigentlich eine Sanfte. Sie stritt sich nie, war kein bisschen hysterisch und glaubte unerschütterlich an den Sinn ihrer Ehe. Sie war der grundoptimistische Typ, der an das Gute im Leben glaubte und wenig Zukunftsängste hatte. Normalerweise zog sie nicht an Strippen im Verborgenen. Das kannte er nicht an ihr. Oder war er einfach blind gewesen?
Denn diesmal war er die Marionette und sie führte Regie. Wenn er unterwegs war, machte er sich nie Gedanken darüber, was seine Frau so trieb. Er arbeitete. Das war sein Universum. Irgendetwas würde sie schon tun, das war klar. Aber gleich ein Haus suchen? Eigentlich war sie gar nicht der Typ dafür. Aber so konnte man sich täuschen. Sie war Lektorin in einem bekannten evangelischen Verlag aus Hamburg und arbeitete häufig in ihrem Home Office. Sie hütete die gemeinsame geräumige Altbauwohnung mit dem großen Balkon und dem Kamin in der Bibliothek. Auch wenn sie sich so selten sahen, dass er das Bibliothekszimmer nur alle drei Monate benutzte und den Kamin noch seltener, glaubte er fest, sie seien zufrieden. Anscheinend traf das nur auf ihn zu. Ihre Hamburger Wohnung lag in Bahrenfeld. Eine ruhige Seitenstraße, in der alte Eichen standen und Erlen. Es gab Vorgärten, in denen Rhododendren und Robinien wuchsen. Ein Katzensprung bis Altona und bis zur Elbe. Was kann man mehr wollen? Höchstens eine eigene Immobilie mit Charakter. Eben, genau diese alte Schule. Sie hatte präzise ins Schwarze getroffen. Deshalb fühlte er sich aufs Kreuz gelegt.
Aber egal, das war nicht wichtig. Die Schule, mit der sie ihn en passant übertölpelt hatte, war eine verwelkte Sensation. Er war dankbar für so eine kluge und intelligente Frau. Gleichzeitig machte sie ihm ein bisschen Angst, musste er sich eingestehen, als er sie durch den Raum auf sich zugehen sah.
Der Wirt kam um zu kassieren, bückte sich, um die Teller abzuräumen. Sein Blick blieb an der Exposémappe hängen. "Das ist ja die alte Schule. Die habe ich als Kind besucht. Wollen Sie hierher ziehen?"
"Vielleicht", sagte Wulf Lindau vage, während seine Frau nachdrücklich nickte.
"Sie werden sehen, das ist ein guter Ort hier. Ruhig, lauter nette Menschen. Es wird Ihnen gefallen, Sie werden sehen! Wenn Sie wollen können sie gleich mit dem Bürgermeister sprechen. Da drüben sitzt er." Er zeigte auf einen kleineren untersetzten Mann in den mittleren Jahren, der einen gepflegten Kinnbart trug. Mit einem Glas Bier und einem Kalbsbraten vor sich machte er einen gemütlichen Eindruck.
"Ach wirklich?", sagte Katharina, "das ist der Bürgermeister?"
Der Wirt nickte und Wolf Lindau seufzte, als er sah, wie seine Frau auf den Tisch des Bürgermeisters zu steuerte.
9. Feuneland
Warme Gefühle durchfluteten Martin Feune. Er stand an der Grenze seines Grundstücks und betrachtete das Areal mit Stolz. Er war am Ziel seiner Träume. Nein, noch nicht ganz. Aber zumindest kam es in greifbare Nähe. Er war ein großer Mann und brauchte ein großes Haus. Eines, das seiner würdig sein sollte. Ein Haus, das Schutz bot, wie eine Burg mit ihm als Burgherr, genau so ein Haus wollte er.
Er las seinen Namen auf dem Bauschild. Bauherr: Martin Feune. Jetzt war hier noch eine wild wachsende Obstwiese, in der Äste lagen und Büsche wuchsen, wie sie wollten, die niemand schnitt und die wohl auch niemand je gepflegt hatte. Unnützes Gestrüpp, aber bald schon würde hier sein Haus stehen, ein Haus wie eine Burg, aus massiven Felsen, so sollte es erscheinen. Wenn man die neonroten Holzpflöcke, die im hohen Gras kaum sichtbar waren, zu einem Grundriss miteinander verband, konnte man die Konturen des Gebäudes erkennen. Im Geiste teilte er die Räume zu, das Schlafzimmer, das Wohnzimmer, die für die Gäste. Den Ruheraum, den man vollständig verdunkeln konnte, nur für ihn selbst, wenn er für sich sein wollte. Er hatte an alles gedacht. Auch an das Nähzimmer für seine zukünftige Frau, die er zwar noch nicht hatte, aber früher oder später würde jemand das Leben an seiner Seite mit ihm teilen, da war er sich sicher.
Bauherr, der Herr über den Bau, genau das war er. Die Abbildung auf dem Schild zeigte ein x-beliebiges Objekt aus dem Fundus der Baufirma. Alle sahen nur das Standardhaus in rotem Klinker. Den kleinen gedruckten Zusatz "Das abgebildete Foto gibt nicht das geplante Gebäude wieder und dient nur zur Darstellung des Bauvolumens" las niemand. Das Bild sollte vor störenden Fragen schützen. Er hatte mit dem Chef der Baufirma diskutieren müssen, aber schließlich gab dieser nach und druckte dieses Bild auf das Bauschild. Nervige Fragen blieben ihm so erspart. Sein Haus würde ganz anders sein als diese mickrigen, austauschbaren Buden im Neubaugebiet. Dort wollte er auf gar keinen Fall wohnen, zu eng, zu dicht, zu viele Nachbarn. Ein Makler hatte dort ein Grundstück vorgeschlagen und er hatte brüsk abgelehnt. Er gehörte hierher, mit seiner Burg, in die Mitte des Ortes. Er war froh darüber, den Architekten schon zu Anfang des Projektes gefeuert zu haben. Zu verspielt waren seine Vorstellungen, zu bieder sein Geschmack. Alles, was er vorschlug, war auch noch teuer. Viel zu teuer. Von "angepasstem Bauen" und "ortsüblicher Architektur" hatte er schwadroniert, aber genau das war ihm völlig egal. Er wollte keine Rücksicht nehmen auf seine Umgebung, sich nicht anpassen, das hatte er nicht nötig, das tat er im Beruf auch nicht. Nein, er wollte sich nicht integrieren in eine Gemeinschaft, die er nicht einmal kannte. Niemand aus dem Ort hatte ihn begrüßt, als er das Grundstück erworben hatte. Wieso sollte er sich dann um die Meinung anderer Leute scheren?
Das Haus würde alles überragen, das in der Umgebung stand. Er hatte es selbst entworfen, nach seinen eigenen Vorstellungen. Der Ingenieur der Baufirma hatte ihm nur ein wenig dabei geholfen. Aber es war sein Entwurf. Sein Haus würde sich nicht in den Ort einordnen, nein, besser noch, es würde dominieren. Bei diesem Gedanken ballte er unbeabsichtigt seine Faust.
Das Grundstück war ideal, hinter ihm lagen die Seewiesen. Von dort waren keinerlei Störungen zu befürchten, wenn nicht gerade ein Mähdrescher die Maat einfuhr. Nur vom Fußballplatz, dessen Flutlichtmasten man in einiger Entfernung emporragen sah, würde hin und wieder ein wenig Lärm ausgehen. Die verrottete alte Schule rechter Hand störte ihn wirklich, vor allem das Gestrüpp und die dschungelartigen Gebüsche. Völlig verwahrlost wie es war, würde sich dafür wahrscheinlich kein Käufer finden. "Wer kauft so eine Bruchbude?", dachte er. Also würde es abgerissen und ein Fertighaus daraufgesetzt. Das müsste dann aber wesentlich kleiner sein als sein Haus, weil eine erneute Grenzbebauung dann nicht mehr zulässig sei, hatte ihm der Architekt erklärt kurz bevor ihre Wege sich trennten.
Linker Hand war nur ein schmales langes Feld, das den alten Dorfkern von den nächsten Bauernhöfen trennte. Ein kleiner Bach bildete die rechte Grundstücksgrenze