Sie brauchten ihn und so nahmen sie ihn auf, wie jemanden, auf den man nicht verzichten kann. Es war der Respekt vor seinem Titel, der ihm Achtung einbrachte. Ohne seinen "Doktor" wäre er ein Fremder, obwohl er schon seit zehn Jahren hier lebte. Zehn Jahre sind gar nichts auf dem Lande. Bei den Freien Wählern fand er ein politisches Zuhause, allein weil er neu hier war, keiner der verdienten alten Sozialisten, die seit der Wende den Ort regierten. Er litt nicht unter seiner isolierten Stellung, denn eigentlich war es ganz bequem so. Er hatte alles richtig gemacht, fand er: Die Ex-Frau war in sicherer Entfernung und beschränkte sich auf gelegentliche postalische Sticheleien. Er zahlte seine Alimente pünktlich und so drehte sich die Kommunikation mit ihr meist nur um die Vereinbarung der Besuchstermine der Kinder, die nun langsam in ein Alter kamen, in dem man sich nicht sonderlich für die Belange seiner Erzeuger interessierte. Sie begannen, ihre eigenen Wege zu gehen und ließen sich immer seltener bei ihm blicken. Gut, etwas mehr Geld hätte es schon sein können, aber man kann nicht alles haben. Sein eigentliches Problem war auch nicht seine Vergangenheit und sein Einkommen.
Es waren die Frauen im Allgemeinen. Er mochte Frauen. Und sie mochten ihn. Soweit war das alles in Ordnung. Aber die finanziellen Folgen seiner Scheidung hatten ihn kurzzeitig an den Rand des Ruins getrieben und jetzt war er ein gebranntes Kind. Er scheute sich, eine ernste Beziehung einzugehen. Einige Bettgeschichten hatte es gegeben, aber sie waren oberflächlich und nur von kurzer Dauer. Die Damen mochten ihn, als Arzt, als Mensch, als Mann. Er konnte zuhören und so kamen sie gern zu ihm, die Zugezogenen, die Einsamen und Unausgelasteten. Die Neuen waren fremd hier und bildeten eine eigene kleine Gemeinschaft unter sich, die mit der einheimischen Dorfbevölkerung nur selten verkehrte. Ihnen ging es wie ihm selbst. So war er Helfer in der Stunde der Not, tröstete, beriet und leistete Beistand. Bislang fuhr er gut damit. Er musste nur darauf achten nicht, zu viele Hausbesuche zu machen.
4. Bromberger
Das hässliche Dorfwappen an der Wand stammte noch aus der Vorwendezeit. Es zeigte einen Baum mit einem ausladenden Ast und darunter einen abgesägten Baumstumpf. Trotz langer Grübelei hatte Bürgermeister Bromberger noch nicht herausfinden können, was es bedeutete. Am ehesten sah der Baumstumpf aus wie ein Hauklotz, aber seine Vermutung behielt er lieber für sich. Er wollte ein neues, modernes Wappen, aber das war gar nicht so einfach, selbst für einen Bürgermeister. Er war aus dem Westen zugereist und da es ihm an Ortsverbundenheit mangelte, musste er aufpassen, dass er seine Mitarbeiter mit seinen Änderungswünschen nicht zu sehr brüskierte. Sie arbeiteten im Amt schon zur DDR-Zeit, für sie war das Wappen ein Stück ihrer Tradition. Wie war es entstanden? Er hatte keine blasse Ahnung. Vielleicht sollte er einmal einen ortsansässigen Heimatkundler befragen. Doch wer kannte sich in Bahlenbredes Vergangenheit aus? Am ehesten kamen der Pfarrer oder einer der alten Schullehrer in Frage. Er würde sie kontaktieren.
Er hatte in seinen ersten Monaten im Amt versucht, das Wappenschild unauffällig zu entsorgen, aber er wurde von Frau Lehmann, eine der Damen aus dem Einwohnermelde- und Ordnungsamt dabei erwischt. Die Sache sprach sich rum und die Damen im Amt fühlten sich persönlich gekränkt. Abgefunden hatte er sich mit dem Dorfwappen aber noch lange nicht.
Bromberger plante Großes: eine Marketingoffensive für den Standort Bahlenbrede. Ein gutes Wappen war dafür Pflicht. Das alte machte wirklich nichts her. Es war einfach nicht marketingtauglich. Ein Baum, ein Ast, ein Baumstumpf. Hatten hier einmal Holzfäller gelebt? Die alten Gemeinderatsmitglieder dazu zu bringen sich des alten Wappens zu entledigen, würde nicht einfach sein. Was er brauchte, war ein gutes, stimmiges Konzept. Eines, worin sich jeder wiederfand, eines was begeisterte. Doch hatte er nicht einen Schimmer einer Idee. In seiner Not hatte er Kontakt zu seinem Neffen Konrad, der in Freiburg Grafik- und Kommunikationsdesign studierte, aufgenommen. Der sah das als Chance, um Praxiserfahrung zu sammeln und sagte eine Reihe Entwürfe zu. Nebenbei hatte er gefragt: "Habt Ihr eigentlich eine Web-Seite?" Bahlenbredes Internetseite bestand aus einem Foto des Dorfangers und einem Informationsblock über die Öffnungszeiten der verschiedenen Gemeindeeinrichtungen. Das war alles. "Internetsteinzeit" konstatierte Konrad: "Ich mache gleich mal einen Entwurf dazu und baue die Wappenentwürfe mit ein." Im Spätsommer sei er fertig, hatte sein Neffe zugesichert. Bromberger grübelte, wie er dem Gemeinderat seine Idee präsentieren konnte. Vielleicht sollte er einen Bürgerwettbewerb veranstalten: "Bahlenbrede - zwischen Tradition und Moderne. Ein Dorf sucht seine Identität." Ja, das wäre ein Ansatz. Oder sollte er die Schulen dafür einspannen: "Mach Dir Gedanken um unser Dorf in der Zukunft und male ein Bild zu Bahlenbrede!" Nein. Lieber nicht, die Ergebnisse würde man im Gemeindesaal ausstellen, um dann einen Arbeitskreis zu gründen, der vierteljährlich tagte und nach zwei Jahren zu dem Ergebnis kommen würde, dass im Grunde alles gar nicht so schlecht sei - mit Ausnahme der Stühle im Sitzungssaal, die mal aufgepolstert werden müssten. Nein, das brachte ihn nicht weiter. Er verjagte eine Fliege, stand auf und schloss die Jalousien vor seinem Bürofenster. Dann schaltete er den Computer an und ging auf die Bahlenbrede-Seite. Mit der war wirklich kein Staat zu machen, die war so veraltet wie das Gemeindeamt selbst, ohne Flash-Animationen und interaktives Bürgerboard. Er musste Schwung in diesen verstaubten Laden bringen. Er brauchte eine Vision.
5. Denkmalrambo
Die Butze war kaum mehr als ein Schweinestall und dazu noch winzig. Die niedrigen Decken drückten ihn runter. Mit seinem Gardemaß von mehr als einen Meter fünfundneunzig hatte er ständig das Gefühl, sich bücken zu müssen. Er ging in die Küche und stieß mit dem Kopf an die Unterkante des Türrahmens. Er rieb sich die schmerzende Stelle. In der Küche roch es muffig. Das Haus war kleiner als es aussah, nur knapp 70 qm Grundfläche, ein Dachgeschoß und ein winziger Keller. Kaum größer als die Mietwohnung, die sie noch in der Hansestadt bewohnten. Das Dachgeschoss war noch winziger als das Erdgeschoss, der niedrige Dachstuhl kostete Wohnfläche. Michael Beer fluchte. Das, was er sah, war weit weg von dem was er wollte.
Das Haus stand unter Denkmalschutz und der verhinderte einen Umbau des Dachstuhls. "Der ist wie eine Höhle für Hobbits!", fluchte Michael Beer. Die großzügige Freiterrasse hatte die Dame vom Bauamt auch gestrichen. "Nicht objekttypisch" hatte sie dazu gesagt. Den Pool im Keller auch. "Gefährdet die Bausubstanz." Michael Beer war frustriert. Er wollte Platz. Hier wollte er seine Kunden empfangen. Er war der führende Mercedes-Händler in Mecklenburg-Vorpommern, er musste repräsentieren. Das hier war nicht repräsentativ, in gar keinem Fall und würde es auch nie sein. Eine Butze, das war es. Michael Beer schüttelte sich feinen Sand aus seinen Haaren, der aus der rissigen Decke herunter rieselte.
Wieso eigentlich war er so blöd gewesen, dieses Haus zu kaufen? Michaela, seine Frau hatte ihn überredet, mit wochenlangen Tiraden hatte sie ihn bedrängt, übertölpelt, ja förmlich gezwungen. Die Pferdeweide grenzte an den Garten und ein eigener Parcours war schon immer ihr Herzenswunsch. Als Volltrottel wie er im Buche steht, hatte er den Kaufvertrag unterschrieben, obwohl das Haus damals schon nicht größer gewesen war als heute. Als er die Pläne einreichte, die einen großzügigen Umbau des alten Bauernhauses vorsahen, kam kurz danach der ablehnende Bescheid vom Denkmalamt. Als hätte er so etwas schon geahnt. Jetzt stand er hier in dieser Butze und musste mit dem klar kommen, was er vorfand. Und das war nicht viel.
Dabei war das Gebäude auf der Straßenseite gegenüber viel geeigneter. Ein altes Schulgebäude, zwar in einem ruinösen Zustand, ok, aber mit ein wenig Kleingeld ließ sich daraus etwas machen. Aber Michaela war dagegen gewesen. Keine Weide, kein Parcours. Als dann noch wochenlanger Sexentzug dazu kam, hatte er schließlich "Ja" gesagt. Obwohl er unter dem Sexentzug eigentlich nicht besonders litt, denn er war oft selbst ziemlich lustlos und es gab durchaus Alternativen. Außerdem stand die Schule damals noch nicht zum Verkauf, der Eigentümer hielt ihn wochenlang hin und reagierte nicht auf seine Anrufe.
Er sah durch das verdreckte Küchenfenster.