"Sie ist eine Runkunkel", dachte er, "eine alte Bäuerin, die nicht mehr auf dem Feld arbeiten kann, am Spinnrad sitzt und Wolle spinnt. Grobe Wolle und dunkle Geschichten. Und sie strotzt nur so vor lauter Boshaftigkeit gegenüber ihren Mitmenschen. Mal sehen, was sie heute für mich hat." Also nur noch diese eine Patientin, dann war endlich Pause.
Ralph Hofkrampe musste sich eingestehen, er hatte Angst vor ihr. Denn auch er hatte etwas zu verbergen. Das Geheimnis seiner Hausbesuche. Als neue Bürgerin dieses Ortes wohnte man weit ab vom Schuss, soweit ab, dass man irgendwann genervt und gelangweilt in der Fertighausvilla hockte, im Internet surfte und beschäftigungslos auf den Mann wartete. Oder man bekam schlimme Kopfschmerzen und Migräneanfälle und ging in seine Sprechstunde. Ralph Hofkrampe war ein attraktiver Mann. Er mochte Frauen, er wollte keine festen Beziehungen. Er merkte, dass die Frauen ihn mochten. Er nahm seine Hausbesuche wieder auf, wenn man wirklich nach ihm verlangte. Auch als Mann. Die Bäuerin setzte sich.
"Was haben wir denn heute?"
"Ich hab so ein Kratzen im Hals. Morgens muss ich immer Husten, dann kommt sogar Schleim!"
Routine. In den Rachen gucken, Brustkorb abhorchen. Keine verdächtigen Geräusche. Er untersuchte die Frau.
"Zum Kratzen kann ich nichts erkennen. Aber vielleicht sitzt das auch ein bisschen tiefer. Ich gebe Ihnen etwas zum Gurgeln. Und die Bronchien rasseln ein wenig. Waren Sie nicht im Frühjahr noch erkältet? Bronchitis?"
Sie nickte. "Aber geraucht haben Sie nie?"
"Igitt!" Sie schüttelte den Kopf.
"Es kann sein, dass davon noch immer etwas übrig ist und deshalb ab und zu Schleim ausgeworfen wird. Das hört sich aber nicht gefährlich an. Ich gebe Ihnen etwas zum Inhalieren. Sie können sich anziehen."
Frau Eulend zog sich umständlich ihre viel zu weite Bluse über und knöpfte sie mühsam zu. Dr. Ralph Hofkrampe kritzelte etwas auf seinen Rezeptblock.
"Und dann hab' ich noch so ein Ziehen im Rücken und zwischen den Schultern." Sie vollführte eine groteske Bewegung, um ihm die Stellen zu zeigen. "Etwa hier und hier."
"Aha. Aber laufen können Sie noch?"
"Ja. Aber wenn ich lange sitze, dann zieht es da." Sie zeigte auf eine Stelle im unteren Lendenwirbelbereich.
"Aha." Dr. Hofkrampe reichte ihr das Rezept.
"Ach übrigens, haben Sie schon gehört, mein Bruder will die Seewiesen verkaufen? Er hat das Grundstück teilen lassen. Ein Stück neben der Schule ist wohl schon verkauft."
"Ach nee, wirklich?" Das war wirklich eine Neuigkeit, denn bislang galt dieses Filetgrundstück direkt am See als unverkäuflich.
"Doch." Sie war sichtlich stolz darauf, ihre Neuigkeiten als Erste präsentieren zu können. Sie reckte ihr Kinn wichtigtuerisch empor. "Wahrscheinlich wird da jetzt doch noch gebaut", legte sie nach.
"Das glaube ich nicht. Im Bebauungsplan steht doch da ganz eindeutig: Weideflächen und Naturreservat."
"Ach was, Bebauungsplan! Geld bestimmt die Welt!", stieß sie hervor. "Wenn die verkauft werden, wird da auch gebaut. Der wird ganz schnell geändert. Sie werden sehen, so wird es kommen."
"Abwarten." Ralph Hofkrampe war skeptisch.
Sie schüttelte den Kopf und warf dann einen Blick auf das Rezept. "Und für meinen Rücken haben Sie mir nichts aufgeschrieben?" Ihre Enttäuschung schwang mit und Dr. Hofkrampe duckte sich unwillkürlich.
"Nein, das ist nicht nötig." Ihre Penetranz ging ihm auf die Nerven. "Ich kann Ihnen aber was raten."
"Was denn?"
Der Doktor überlegte kurz. "Bewegen Sie sich. Gehen Sie wandern."
"Wie bitte?"
Dr. Hofkrampe erhob sich. "Ja, gehen Sie wandern. Beim Wandern läuft man sich den Alltagskummer weg und man wird entspannter. Man entdeckt Neues und nimmt seine Umwelt bewusster wahr. Man wird ausgeglichener und regt sich nicht so schnell auf. Wandern ist gut für unser physisches und psychisches Wohlbefinden und man nimmt dabei auch noch spielend ab."
Er klopfte ihr dabei leicht auf ihr ausladendes Hüftgold, während er sie sanft aber bestimmt in Richtung Ausgang schob. Frau Eulend schüttelte verständnislos ihren Kopf und sie schüttelte ihn immer noch, als sie den Flur hinunter ging. Er musste vorsichtig sein, sonst würde er zum Ziel ihrer Rache.
Er schloss die Tür hinter der dicken Frau und sperrte ab. Auf dem Balkon seines Arbeitszimmers gönnte er sich eine Zigarette. Das Beste an seiner Praxis war dieser Balkon.
Sie lag im Obergeschoss des höchsten Gebäudes Bahlenbredes. Von hier aus hatte man alles im Blick, den ganzen Dorfanger bis hinunter zum alten Schulgebäude und dem See. Wenn er nach Praxisschluss das Licht anließ, dachte man im Dorf, er würde bis spät abends arbeiten. Der Trick mit der Zeitschaltuhr hatte ihm schnell einen Ruf als fleißiger Arzt eingebracht. Die zwölf Euro waren eine lohnende Investition.
Das Wetter war schön, es war der wärmste Sommer seit langem. Eigentlich war er ganz zufrieden. Er stellte sich an die Balustrade und zog den Rauch ein. Er entspannte sich. Alles war gut. Die Entscheidung war richtig gewesen, obwohl er hier keine Reichtümer anhäufen würde. Hamburg lag hinter ihm, das Krankenhaus und die Scheidung auch. Das hier war eine kleine, schöne Welt. Karriere war nicht alles.
Bahlenbrede, so hieß das Dorf. Eigentlich war es gar kein richtiges Dorf mehr. Als kurz nach der Wende der alte Landarzt in Pension gegangen war, hatte er nicht lange gezögert und seine Stelle als Assistenzarzt im Hamburger Albertinenkrankenhaus aufgegeben. Er war das Wagnis eingegangen, hatte gekündigt, einen Kredit für die Praxis und die Patientenkartei aufgenommen und zog hierher. Damals waren es kaum mehr als zweitausend Menschen, die an diesem Flecken wohnten. Es gab einen kleinen Konsum, zwei Dorfkneipen, die sich gegenseitig den Rang streitig machten, bis schließlich eine auf der Strecke blieb, einen kleinen Bäcker, der nur morgens für zwei Stunden geöffnet hatte, einen Ponyhof, die freiwillige Feuerwehr und einen Landarzt. Und das war jetzt er selbst, Ralph Hofkrampe.
Das Dorf war auf die doppelte Größe gewachsen, hatte Speck angesetzt, an den Rändern. Es hatte Nebenarme und Tentakeln gebildet. Die Neubausiedlung auf dem Hypothekenhügel war binnen weniger Jahre gewachsen und bescherte dem Dorf einen beachtlichen Bevölkerungszuwachs und sprudelnde Einnahmen aus der Einkommenssteuer. Jetzt gab es ein kleines Einkaufzentrum auf der anderen Seite, einen provisorischen Anbau an die kleine Grundschule, eine Tankstelle und ein echtes Restaurant. Der Sportverein bot neuerdings sogar Beachvolleyball und Kijutsu an. Von einer Leichtathletik-Abteilung hatte er auch gehört. Die Gruppen waren zwar noch klein, aber sie wuchsen, immerhin. "Das Dorf macht sich langsam", dachte Ralph Hofkrampe und schnippte seine Zigarette über die Balkonbrüstung. Eigentlich war alles in Ordnung - bis auf das Geld. Am Ende des Angers kletterte jemand unbeholfen über die geschlossene Pforte der alten Schule.
2. Mut zum Flug
Wulf Lindaus Leben war übersichtlich. Nicht langweilig oder ereignisarm, nein, darüber konnte er sich nicht beklagen. Übersichtlich war es dennoch. Normalerweise. Er arbeitete immerzu, ständig, rund um die Uhr. An den Wochenenden und an den meisten niedrigen Feiertagen. Er kam oft spät nach Hause, nur um zu essen, zu duschen, seine Sachen zu wechseln und zu schlafen. Meist allein, aber wenn er seiner