»Warum habe ich das getan, Viktor?«, fragte sie matt. »Ich wollte das doch gar nicht. Ich wollte mich nur da hinsetzen, erzählen, was passiert ist, und Fragen beantworten. Stattdessen renne ich zu diesem Schwein und … Du meine Güte!«
Er musste sich ein Lachen verkneifen, als Anna laut aufstöhnte bei der Erinnerung, die für ihn gut sichtbar in ihr aufstieg. Sie hatte dem Ungeheuer eine Ohrfeige verpasst. Mitten im Gerichtssaal!
… Kaum betrat sie den großen unfreundlichen Raum, sah sie nur noch rot. Völlig unverhofft, von einem Moment zum nächsten, hatte es sie überkommen. Sie stürmte anstatt zu ihrem Zeugenstuhl zum Angeklagten, ihrem ehemaligen Biologielehrer Nils Zitt, und verpasste ihm wortlos eine schallende Ohrfeige. Annas Vater rannte so schnell wie möglich dazu, um sie daran zu hindern, weiter auf den jammernden Mann einzudreschen. Die Hand hatte sie bereits erneut erhoben.
Johannes nahm seine Tochter zärtlich in den Arm, redete begütigend auf sie ein. Danach entschuldigte er sich beim Vorsitzenden für Annas Verhalten, gab gleichzeitig ihre seelische Verfassung zu bedenken und bat um richterliche Nachsicht.
Der Richter reagierte wegen der Sache ziemlich aufgebracht, behielt sich indes eine Entscheidung über das »ungebührliche Verhalten« der Zeugin vor.
Dann endlich spürte Anna Viktors und ebenso Vitus‘ besänftigende Kraft. Es gelang ihr daraufhin, die Fassung zurückzugewinnen. Einigermaßen entspannt ließ sie sich von ihrem Vater an den Zeugentisch führen. Dem Richter schaute sie dabei tief in die Augen. Nun bat auch sie ihn um Verzeihung, ohne allerdings eine weitere Erklärung zu ihrem Benehmen abzugeben. Sie nahm wahr, wie der Mann unangenehm berührt auf seinem Richterstuhl hin und her rutschte, sich sogar ein paarmal räusperte, bevor er ihre Entschuldigung annahm.
Doch er forderte sie nicht auf, sich überdies beim Angeklagten zu entschuldigen, was dessen Verteidiger wiederum gar nicht gefiel. Nach einem Blickwechsel mit Annas blitzenden Saphiraugen gab der allerdings keine zusätzlichen Äußerungen dazu ab. Und nach einem weiteren kurzen Augenkontakt mit Anna strich er stattdessen seinem nach wie vor heulenden Mandanten einmal väterlich über den Rücken, obwohl der deutlich älter als sein Anwalt zu sein schien. Daraufhin stellte der Angeklagte sein in Annas Ohren und Augen lächerliches Wimmern und kindisches Verhalten wieder ein. …
Viktor beobachtete Anna aufmerksam. Augenscheinlich dachte sie auch weiterhin gründlich über all das nach, was während ihrer Zeugenaussage vorhin im Gerichtssaal geschehen war.
»Du oder Vitus, einer von euch beiden hat den Richter und den Verteidiger beeinflusst, nicht wahr?«, wollte sie dann wissen. »Man hätte mich eigentlich für meinen Super-Auftritt bestrafen müssen, rügen, oder wie man so was nennt, hat es aber nicht getan.«
»Nein, Anna, das warst du selbst. Du hast alle beide manipuliert. Nicht ich. Nicht Vitus.«
»Was?« Anna war so schnell hochgeschossen, dass ihr offensichtlich gleich wieder schwindelig wurde und sie sich deshalb zurück in die Kissen sinken ließ. »Ich?« Sie sah Viktor mit immer noch trüben Augen an. »Ich kann so was doch gar nicht.«
Viktor runzelte nachdenklich die Stirn. »Anscheinend doch, Kleines. Wie Vitus schon sagte: Du lernst ständig dazu.« Jetzt lächelte er verschmitzt. »Du hast eine gute Linke, Süße. Das hat bis nach draußen geknallt. Ich hab‘s gehört und natürlich in dir gesehen. Du warst einfach großartig.«
»Lass das, Viktor«, erwiderte Anna unwirsch. »Das hätte mir nicht passieren dürfen. Ich hab das alles viel zu nah an mich rangelassen. Ich …«
Jetzt war es an ihm, unwirsch zu werden. »Sag mal, spinnst du?«, rief er entrüstet dazwischen. »Wem sollte das Ganze wohl nahegehen, wenn nicht dir? Dieser Typ hat dir Gewalt angetan, er wollte …« Viktor unterbrach sich selbst und schüttelte den Kopf. »Allein beim Gedanken daran flippe ich aus.«
Sein Blick bohrte sich in ihren. »Anna, wenn du das nicht getan hättest und wenn Vitus mich nicht mental zurückgehalten hätte, ich wäre bestimmt nicht straffrei da rausgegangen, glaub mir. Ich hätte den Kerl fertiggemacht, richtig fertig.«
»Hättest du nicht, Viktor. Du hast es gewollt, ja. Aber du hättest es für mich bleiben lassen, damit ich mir keine Sorgen machen muss. Es wäre schließlich nicht besonders schlau, sollten die Behörden dich allzu sehr durchleuchten. Du hast zwar eine menschliche deutsche Mutter, eine ordentliche Geburtsurkunde, auch einen Pass und Führerschein und all so was. Trotzdem wäre es riskant, mehr von dir preiszugeben. Denk an Marius. Es ist nicht klug, die Neugierde anderer Menschen zu wecken.«
Sie richtete sich langsam wieder auf, nahm eines der Brote zur Hand und biss vorsichtig hinein.
»Ja, das stimmt natürlich.« Er nahm sich auch ein Brot. »Trotzdem fiel es mir schwer. Deshalb ist es nur recht, dass du ihm eine runtergehauen hast, sozusagen stellvertretend für mich.«
Schwach lächelnd kaute sie zu Ende und spülte den Bissen mit einem großen Schluck Cola hinunter, so, als ob das Essen nicht richtig rutschen wollte.
»Ich dachte, ich käme besser damit zurecht, Viktor. Ich dachte, ich hätte es im Griff und nichts würde mir mehr Angst machen als die Aussicht, dich zu verlieren. Zugegeben, so einfach war es wohl doch nicht. Ich musste mich erst richtig von dem Scheusal befreien, es körperlich spüren. Ich glaube, auf diese, nun ja, etwas dramatische Art und Weise ist mir das gelungen.« Geistesabwesend biss sie noch einmal in ihr Brot. »So langsam geht es mir besser.«
»Bleib trotzdem noch ein Weilchen liegen, Süße. Ich mach uns einen Kamillentee. Dann lege ich mich zu dir, ja?« Viktor stand auf, um erneut in die Küche zu gehen.
Anna hielt ihn jedoch am Hemdärmel fest. »Er wird bestraft und kommt vorerst nicht mehr raus, nicht wahr?«
»Ganz bestimmt«, beruhigte Viktor sie. Dabei behielt er für sich, dass auch er den Richter und den Verteidiger, ja, sogar den Staatsanwalt ein kleines bisschen empathisch beeinflusst hatte. »Wir haben unsere Aussagen gemacht. Das werden die anderen betroffenen Mädchen ebenfalls tun, genau wie die Lehrer und auch die Polizisten, die damals seine Wohnung gestürmt haben.« Ein grimmiger Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Außerdem bricht