Vitus antwortete anstelle seines Sohnes: »Viktor hat hier über drei Wochen lang die Stellung gehalten und das wirklich ausgesprochen gut. Natürlich wird er heute bei dir bleiben, Tochter.« Daraufhin stand auch er auf, ging zu Anna, die er wie Viktorias Freund Ketu oft als »sein Kind« bezeichnete und nahm sie in den Arm.
… Sie sollte nicht immer so ein mulmiges Gefühl haben, wenn sie in seiner Nähe war, dachte Lena, nun, da sie erneut beobachten durfte, wie herzlich Vitus sein konnte. So viel Macht und Autorität er auch ausstrahlte, er konnte ebenso viel Wärme und Liebe geben.
Sie überlegte: Vitus war größer als Viktor und ziemlich muskulös. Vielleicht fühlte sie sich ja deshalb oft so eingeschüchtert in seiner Nähe. Aber ihr eigener Freund Sentran übertraf den Elfenkönig bei Weitem an Größe und Stärke. Das konnte es also nicht sein.
Oder lag es eventuell an seinem äußerst attraktiven Gesicht, mit den scharf geschnittenen Zügen, schön geschwungenem Mund und der schulterlangen rabenschwarzen Mähne? Nein, hier saßen ausschließlich gutaussehende Elfen. Das schied also auch aus. Selbst Vitus‘ energisches Kinn mit dem männlichen Grübchen in der Mitte fand Lena einfach nur sexy und keinesfalls angsteinflößend. Genau wie sein Lachen, weil er dann aufgrund der Grübchen auf den Wangen seinen Kindern so ähnlich sah.
Nein, es war wohl doch eher seine machtvolle Aura, die ihr diesen Respekt einflößte. …
Als Lena zudem beobachtete, wie Vitus ihre Schwester mit einem liebevollen Blick bedachte, nahm sie sich vor, ihre Vorbehalte endgültig ad acta zu legen.
Es war einfach zu familiär, wie dieser machtvolle Mann einmal sanft über Annas Arme strich, dann sowohl ihren Armreif, den er ihr zum Geburtstag geschenkt hatte, als auch das Medaillon an ihrer Kette berührte und sprach: »Denk immer daran, was Loana dir einmal gesagt hat, Tochter: Du bist nie allein. Wir alle sind bei dir, überdies deine Eltern und Geschwister, ganz besonders natürlich Viktor. Vergiss das nie.« Er küsste ihre Stirn, machte daraufhin Platz für die anderen, da diese mittlerweile ebenfalls aufgestanden waren, um sich zu verabschieden.
Auch Lena schloss Anna in die Arme und bemerkte, dass ihrer Schwester, wie so oft, vor Rührung eine einzelne Träne die Wange hinablief. Anna sagte nichts, als sie sich abwandte. Das fiel ihr scheinbar zu schwer. Viktor nickte ihnen zu, bevor sie die Küche verließen.
***
Zuerst herrschte betretenes Schweigen, das ausgerechnet Vitus‘ wortkarger Elitewachmann Ketu durchbrach. Er sah Viktoria aus ruhigen hellbraunen Augen zärtlich an.
»Wir wissen, dass Anna viel stärker ist, als sie manchmal wirkt.«
»Hhm«, meinte Viktoria nur.
Vitus dagegen blieb zunächst auffällig schweigsam. Er hatte seinen Geist tief verschlossen, wollte er seine Überlegungen doch gerne für sich behalten. Ihm war durchaus bewusst, dass diese Verhandlung nicht nur Anna, sondern auch Viktor schwer zu schaffen machte. Er würde gedanklich mit seinem Sohn verbunden bleiben, um ihn notfalls zu beruhigen. Dann jedoch macht er seinen Kopf davon frei. Bis zum Prozess war ja noch etwas Zeit. Also wandte er sich in seiner typisch spontanen Art an Sentran: »Was sagt denn Linna eigentlich zu unserem Vorhaben?«
Sentran betupfte sich mit einer Serviette den Mund, bevor er antwortete: »Meine Mutter ist überglücklich, mein König, was sie übrigens bereits vorher schon war. Natürlich hält sie es für maßlos übertrieben, dass du ihr ein Haus auf dem Schlossgelände bauen willst, und dem pflichte ich unumwunden bei. Dennoch freut sie sich über alle Maßen. Noch nie hat sich jemand derart um sie gekümmert.«
Jetzt musste Vitus grinsen. »In einem Punkt hast du mich scheinbar falsch verstanden, Sentran. Das wird nicht nur ein Haus für Linna, sondern ebenso für dich.«
Vitus vergnügte sich an Loanas offensichtliche Verwunderung darüber, dass sein Grinsen sich wegen Sentrans verblüffter Miene noch weiter ausdehnte.
»Na ja, falls du einmal eine Familie gründest, brauchst du Platz. Also sollte das Haus groß genug werden.«
»Mein König, ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Dann lass es halt, Sentran. Schließlich habe ich mir den Mund oft genug fusselig geredet, wenn ich euch sechs Wachmännern zu erklären versuchte, dass ihr zu meiner Familie gehört. Allerdings wirst du im Moment noch keine Zeit haben, dich um den Bau zu kümmern. Überlass das also dem Baumeister und deiner Mutter.«
Vitus fuhr aufgrund Sentrans fragendem Gesichtsausdruck fort: »Ich habe Timmun und Essem mit ihren Frauen für zwei Wochen in Urlaub geschickt. Das war schon lange fällig. Zudem wird Annam erst in einer Woche vom Besuch bei seiner Familie im Fernen Osten zurück sein. Tja, und Voltran ist noch mit Kirsa im Norden. Ihr Aufenthalt bei Jeomi und auch Tahiti selbst hat ihnen beiden gutgetan. Jetzt muss Kirsa sich darüber im Klaren werden, ob sie hierher zu Voltran ziehen möchte.«
Vitus seufzte. »Ich denke, ich werde mit dem Baumeister wegen eines weiteren Hauses sprechen müssen. Denn Kirsa wird mitkommen und sie wird Voltran heiraten. Da bin ich mir sicher.«
Die letzten Sätze hatte er mehr zu sich selbst gesagt. Daher wunderte er sich über die staunenden Gesichter der Anwesenden, so sehr war er mit seinen Zukunftsplänen beschäftigt.
Er sprang vom Stuhl. Dabei schaute er Ketu und Sentran gespielt ernst an. »Ja, guckt nicht so verdutzt. Ihr beiden Wachmänner seid nun mal zurzeit die einzigen von den Sechsen, die Viktor und mir zur Seite stehen.«
Er klatschte auffordernd in die Hände. »Also, auf, auf! Es gibt viel zu tun.«
Daraufhin wandte er sich seiner Frau, Viktoria und Lena zu. »Ihr werdet bis heute Mittag wohl oder übel ohne uns auskommen müssen.«
Wut im Bauch
Anna war furchtbar blass und diese durchscheinende Blässe ließ sich einfach nicht vertreiben.
»Leg dich bitte hin, Süße«, sorgte sich Viktor. »Du bist ja ganz wackelig, komm schon.« Er schob sie in dem kleinen Wohnzimmer