Auch Schmetterlinge können sterben. Martina Decker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martina Decker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738098952
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muss.«

      »Ich verstehe …«

      »Ich nicht!«, bekannte Roman. » Aber ich bin ja auch »nur« ein Mann. Also, ich verlasse mich auf Sie, Felizitas. Ansonsten bin ich dann jetzt in diesem Meeting.« An der Tür wandte er sich noch einmal um. »Und wenn Hongkong sich meldet …«

      »Gebe ich Ihnen sofort Bescheid«, beendete Felizitas seinen Satz. Sie deutete auf eine Akte neben dem Telefon. »Ich habe bereits Vorbereitungen getroffen. Sie können ganz unbesorgt sein.«

      »Sie sind unbezahlbar, Felizitas!«

      »Ich werde Sie bei den nächsten Gehaltsverhandlungen daran erinnern«, entgegnete die junge Frau.

      »Bis später!« Eilig verließ Roman den Raum. Noch auf dem kurzen Weg zum Konferenzraum warf er einen Blick in das Dossier. Felizitas hatte vorbildliche Arbeit geleistet. Es war immer wieder erstaunlich, was sie aus seinen Notizen herauszuholen wusste. Alles war übersichtlich dargestellt, angemessen formuliert und durch weitere Rechercheergebnisse ergänzt. Die kleine Unstimmigkeit aus dem Memo war auch nicht mehr ersichtlich. Sie hatte es bei der Ausarbeitung natürlich selbst gemerkt.

      Es gab in der Kanzlei keine Assistentin, die auch nur ansatzweise so gut recherchieren konnte wie Felizitas. Das kam ihm immer wieder, besonders bei schwierigen oder unübersichtlichen Vertragsverhandlungen, zugute. Meist wusste er schon zu Anfang mehr über die Gegenseite, als dieser lieb sein konnte. Auch jetzt hatte Felizitas ein paar interessante Details zutage gefördert.

      Über Romans Gesicht huschte ein siegessicheres Lächeln, das in dem Moment verschwand, als er die Tür zum Konferenzraum öffnete. »Buenos dias, meine Damen und Herren! Bitte entschuldigen Sie meine Verspätung!« Mit weit ausholenden Schritten durchquerte er den Raum und nahm an der Kopfseite des Konferenztisches Platz. Unbeeindruckt von den abwartenden Blicken der Anwesenden zog er seinen Stift aus der Brusttasche der Jacke und legte ihn beinahe liebevoll neben das Dossier. Er griff nach der Kaffeekanne und goss sich ein, tat einen Löffel Zucker dazu und rührte bedächtig um. Nur das Anschlagen des Metalls an dem dünnen Porzellan war zu hören.

      Roman sah in die Runde. »Kaffee ist ein wunderbares Getränk. Es belebt Körper und Geist.« Andächtig hob er die Tasse an und führte sie an die Lippen. Nachdem er kurz genippt hatte, meinte er: »Ich danke Ihnen für Ihre Geduld.« Die Angesprochenen nickten verbindlich. Roman war zufrieden. Schwungvoll schlug er das Dossier auf, nahm den zuvor so bedächtig abgelegten Stift in die Hand und lehnte sich ein wenig zurück. »Dann lassen Sie uns beginnen! Zeit ist Geld, und beides wollen wir keinesfalls verschwenden.«

      7

      Julias letzte Zweifel versanken zusammen mit dem weichen Schaum ihres nach Aprikosen duftenden Duschgels im Abflussrohr. Die Vorfreude wuchs und ihre Gedanken kreisten mehr und mehr um das bevorstehende Treffen. Der Wetterbericht sprach von einem warmen Tag und milden Nachttemperaturen. Der ideale Abend für ein Fest. »Was zieh ich an? Lässig oder elegant? Hose oder das neue Kleid? »Natürlich das neue Kleid!«, sagte sie laut, »deswegen habe ich es doch gekauft!«

      »Du siehst toll darin aus!«, hatte Roman bewundernd gesagt und toll aussehen wollte sie heute Abend auf jeden Fall. Wenn schon alleine, dann wenigstens nicht wie ein graue Maus.

      Zufrieden schlüpfte sie nur wenig später in die engen weißen Jeans und zog eine bunte Tunika über. Es war ein bequemes und trotzdem schickes Outfit für die etwa dreistündige Autofahrt. Anschließend legte Julia ein wenig MakeUp auf und band die noch feuchten Haare zu einem Zopf zusammen. Lag es an der Frisur, dass sie sich mit einem Mal so jung und voller Tatendrang fühlte?

      Obwohl es schon auf Mittag zuging, packte Julia ohne Eile ihre Reisetasche und nahm schließlich das neue Kleid samt Bügel vom Kleiderschrank. An der Tür hielt sie noch einmal kurz inne. Sie hatte ein wenig Bargeld eingesteckt und die Kreditkarte; der Ausdruck der Hotelreservierung lag in der Tasche, ebenso das Ladekabel für ihr Handy. »Ich glaube, ich habe alles«, sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »Dann geh' endlich «, antwortete es. »Mach ich!“«

      Julia war jetzt fest entschlossen, sich bestmöglich zu amüsieren und das Wiedersehen mit den alten Freunden zu genießen. Was war wohl aus Christian geworden, der in der Pause gerne mal einen Joint rauchte, weil das angeblich seinen Geist befreite? Ob er mittlerweile ein Spießer geworden war? Oder doch unter einer Brücke hauste, wie Lehrer und Mama es prophezeit hatten?

      Oder aus Rebecca ? Außer ein paar wenigen banalen Sätzen per Mail wusste sie nichts mehr über ihre ehemalige beste Freundin. Damals saßen sie in viele Kursen nebeneinander und waren auch abends oft zusammen losgezogen. Rebecca war ein kluger Kopf: Sie musste selten richtig lernen – ihr flogen die guten Noten einfach zu. »Du kriegst bestimmt mal den Nobelpreis!«, war Julia überzeugt gewesen. Aber Rebecca hatte nur abgewunken und gelacht. Sie träumte sich schon in der zehnten Klasse lieber ein Leben mit Mann, vielen Kindern und einem Rosengarten. »Ich liebe Rosen und werde Rosenzüchterin«, hatte sie regelmäßig geantwortet, wenn sie nach ihren Zukunftsplänen gefragt worden war.

      Julia schüttelte verwundert den Kopf. Sie hatte die ganzen Jahre nicht ein einziges Mal an Rebecca oder die anderen gedacht. Und jetzt kamen so viele Erinnerungen. Wie aus dem Nichts tauchten sie auf, als wäre ein Tor geöffnet worden, hinter dem sich die Vergangenheit versteckt gehalten hatte.

      ***

      Der Motor heulte gequält auf, als Julia das Gaspedal fast bis zum Bodenblech durchtrat. Der Wagen machte einen Satz nach vorne, der Motor soff ab. »Mist!«, fluchte Julia. Der Kleine würde sie doch wohl nicht ausgerechnet heute im Stich lassen? Das Vergnügen wollte sie Roman nun wirklich nicht gönnen. »Komm, mein Schatz«, murmelte sie beschwörend und strich mit einer sanften Handbewegung über Lenkrad und Armaturenbrett, »ich brauch dich und ich zähl' auf dich.« Sie startete erneut, der Motor gluckerte leise und gleichmäßig. Julia hauchte ein Danke und legte krachend den ersten Gang ein. Dann brauste sie davon.

      Sie schaltete das Radio an und sang gut gelaunt mit. Roman war von ihren Sangeskünsten eher wenig begeistert, weswegen sie bei gemeinsamen Fahrten meist nur sehr verhalten mitsummte. »Aber Roman ist ja nicht hier! Roman hat ein wichtiges Meeting mit den Spaniern«, meinte sie lapidar und drehte Radio und Stimme noch ein bisschen mehr auf.

      Im selben Moment schoss wie aus heiterem Himmel ein Fahrradfahrer aus der Seitenstraße heraus. Für den Bruchteil einer Sekunde begegneten sich ihre Blicke. Julia schrie entsetzt auf und stieg mit aller Macht auf die Bremse. Das Heck des kleinen Stadtflitzers brach aus, die Reifen rutschten quietschend über den Asphalt. Julias Hände krallten sich um das Lenkrad, ihr Herz raste. Jeden Moment erwartete sie den Zusammenstoß. Als der Wagen endlich zum Stehen gekommen war, riss Julia die Tür auf und sprang auf die Straße. Der erste Blick ging unter den Wagen. War der Radfahrer unter die Räder gekommen? Nein, stellte sie erleichtert fest, nur um sich im gleichen Moment zu fragen, wo er denn sonst wohl abgeblieben war.

      Das Schlimmste befürchtend ging sie langsam um den Wagen herum.

      »Suchen Sie den Fahrradfahrer? Der ist weg!« Auf einem Balkon stand eine ältere Dame. Ihr geblümter Morgenrock leuchtete in einem grellen Pink, die Haare waren auf große Wickler gedreht. »Aber ich hab' alles gesehen. Falls …«

      »Danke«, Julia nickte der Frau knapp zu, »das wird wohl nicht nötig sein.« Mit weichen Knien und am ganzen Leib zitternd setzte sie sich wieder hinter das Steuer. Als sie aus dem Blickfeld der Alten verschwunden war, fuhr sie rechts ran, stellte den Motor ab und legte den Kopf aufs Lenkrad. Das Zittern wollte nicht aufhören und ihre Brust war so eng, dass sie kaum noch Luft bekam. Minutenlang saß sie so da, bis sie sich irgendwann mit einem tiefen Seufzer aufrichtete. Bis jetzt war das heute definitiv nicht ihr Tag. Man konnte fast glauben, eine höhere Macht wollte sie von diesem Klassentreffen fernhalten. »Das ist doch absoluter Quatsch!« schimpfte Julia sofort ins Leere. »Einfach ausgemachter Unsinn! Welches Interesse sollte bitte eine höhere Macht daran haben?«

      Sie atmete dreimal hintereinander tief durch die Nase ein und mit einem deutlichen pfffffffffff durch den Mund wieder aus. »Lass die Lippen vibrieren«, hörte sie Guru Sri Rami aus Mumbai sagen. Guru Sri Rami, für dessen