Auch Schmetterlinge können sterben. Martina Decker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martina Decker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738098952
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wie sich später herausstellen sollte; Guru Sri Rami, ein Scharlatan, der ihnen einen wunderbar lustigen Abend beschert hatte. Alles Humbug, aber das mit dem dreimal Atmen, das half tatsächlich.

      Auch jetzt wieder. Das Zittern ebbte ab, frischer Sauerstoff strömte durch ihren Körper und verscheuchte die dummen Gedanken in ihrem Kopf.

      Alle guten Dinge sind drei! Julia startete erneut ihr Auto und sparte dabei nicht an Streicheleinheiten und guten Worten. Vorsichtig manövrierte sie zurück auf die Straße. Ab jetzt würde ihr hoffentlich nichts mehr in die Quere kommen und sie nichts mehr aufhalten.

      Das Beinaheunglück mit dem Fahrradfahrer rückte mit jedem gefahrenen Kilometer ein bisschen mehr in den Hintergrund, die gute Laune kehrte in gleichem Maße zurück. »Liebe ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschüler, sehr geehrte anwesende Lehrerinnen und Lehrer! Ich freue mich …«

      »Verdammt, wo ist die Zeit geblieben?«, ging es Julia durch den Kopf. Zwanzig Jahre und siebzehn davon mit Roman. In einem Biergarten waren sie sich das erste Mal begegnet. Sie war mit einer Kommilitonin unterwegs gewesen, er mit Freunden. Die Jungs hatten schon das ein oder andere Bier getrunken, waren laut und ziemlich übermütig. »Welch Glanz in unserer Nähe!«, meinte einer von ihnen, als Julia und ihre Freundin sich durch die Tischreihen drängelten. »Mädels, trinkt ihr einen mit?« Sie hatte ablehnen wollen, da war ihr Roman aufgefallen. Halb entschuldigend, halb bittend hatte er sie angesehen mit seinen strahlenden, eisblauen Augen. Sie hatte sich augenblicklich in ihn verliebt. Später am Abend gestand er ihr, dass es ihm genauso gegangen war. »Ich hätte mich vor dir in den Staub geworfen, wenn ihr unsere Einladung abgelehnt hättet«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich glaube – ach was, ich weiß es: Du bist meine Traumfrau!«

      »Wir kennen uns gerade mal drei Stunden«, wiegelte sie damals sanft ab. »Ich habe noch die besten Chancen, dein größter Albtraum zu werden!«

      Statt einer Antwort gab er ihr den ersten Kuss. Er schmeckte nach Bier und Sommer. Und in Julias Bauch flatterten aufgeregte Schmetterlinge. Die Welt um sie herum versank in Rosarot.

      »Ich hasse Spanien!«, sagte Julia laut und schlug wütend gegen das Lenkrad. Es war so schön gewesen, damals, als sie beide noch am Anfang ihrer Beziehung und ihrer Karrieren standen.

      Sie waren nahezu unzertrennlich gewesen. Bereits nach einem viertel Jahr war sie bei ihm eingezogen. Schaute ihm zu, wenn er grübelnd über den Gesetzestexten hing, diskutierte

      mit ihm strittige Urteile. Er mimte im Gegenzug den Schüler, kochte ihr einen Tee, wenn sie mitten in den Korrekturen einer Klassenarbeit steckte. Sie kochten gemeinsam und gingen zusammen mit Freunden aus. Sie feierten ihre beruflichen Erfolge und stützten sich in schwierigen Zeiten. Für einander und miteinander - sie waren ein tolles Paar – damals! »Jetzt hör auf mit »es war einmal««, rief Julia sich selbst zur Ordnung. »Das ist ja deprimierend. Schau raus: Die Sonne scheint, der Raps blüht und die Wälder sind noch nicht gestorben.« Außerdem hatte sie Hunger. Die Tasse Tee von heute Morgen hatte die Grenze ihres Maximal-Nährwerts längst abgegeben und gegessen hatte Julia ob des Ärgers am Frühstückstisch auch noch nichts. Unterzucker macht schlechte Laune! Kein Wunder, dass sie ständig an früher dachte.

      Julia fuhr den nächsten Rasthof an, gönnte sich eine Tasse Kaffee und ein belegtes Brötchen. Der Salat war welk, die Gurke an den Rändern trocken. Trotzdem hätte es in diesem Moment kaum besser schmecken können. Sie suchte sich einen Platz etwas abseits vom Trubel und hielt das Gesicht in die Sonne. Auch alleine war es schön, einfach nur da zu sitzen und den Augenblick zu genießen. Einen Moment lang schloss sie die Augen, spürte die Sonnenstrahlen auf der Haut und wie sich ihre Muskeln entspannten. Sie stellte sich vor, nicht auf einem Rastplatz, sondern irgendwo im warmen Süden zu sein: Dolce Vita und Eiscreme, danach ein Bad im Meer. Julia seufzte wohlig.

      Leider drang der zunehmende Lastverkehr mehr und störend in ihren Tagtraum ein. Schließlich setzte sie sich auf und schaute gelangweilt den an- und abfahrenden Fahrzeugen zu. Da waren alte und beängstigend klapprige Lieferwagen; chromblitzende LKW und ein echter amerikanischer Truck.

      Julia winkte einem freundlich hupenden Brummifahrer nach und schaute ein klein wenig wehmütig einer Familie mit zwei kleinen Kindern zu. Irgendwann zwang sie sich energisch, den Blick von dem süßen Baby auf dem Arm der fremden Frau abzuwenden. Sie goss den kalten Kaffee in den Gully und warf den Becher in den Müll. »Frau kann nicht alles haben. Mit so einem kleinen Fratz wärst du jetzt bestimmt nicht auf dem Weg zu deinem Klassentreffen «, tröstete sie sich. »Dann wäre ich eben nicht gefahren! «, gab sie aufmüpfig zurück.

      Für einen kurzen Moment erlaubte sie sich, sich ihr Leben als Mama vorzustellen. Ob Junge oder Mädchen wäre egal. Morgens würde sie das Kleine in den Jogger setzen und eine Runde laufen gehen. Sie würde mit ihm spielen und eine dieser Mutter-Kind-Gruppen besuchen, wo man sich traf und plauderte, während die Kinder herumtollten. Roman wäre der perfekte Papa. Weder eine volle Windel noch ein schreiendes Baby brächten ihn aus der Fassung. Geduldig würde er es in den Schlaf wiegen, ihm vorlesen – später das Fahrrad fahren beibringen oder ein Baumhaus bauen. Sie würden ...

      Julia fiel die noch ausstehende Nachricht an Roman ein. Damit war sie wieder in der Gegenwart angekommen. Dort, wo es kein gemeinsames Kind gab und Roman vor lauter Arbeit nicht einmal Zeit für sie oder Freunde hatte. Wo eine Familie Baker beinahe so unvorstellbar war wie Frieden für alle oder Strom ohne Atomkraftwerke.

      Lustlos kramte sie das Handy aus der Tasche. “Hallo Roman, bin auf dem Weg zum Klassentreffen. Bin morgen Abend zurück. Sonja hat angeboten, dich zum spanischen Dinner zu begleiten. Gönn' ihr den Spaß und sei nett zu ihr. Gruß Julia“

      »Nicht gerade liebevoll und romantisch«, resümierte sie beim Drüberlesen und war kurz versucht, wenigstens noch ein Herzchen oder ein Grinsegesicht einzusetzen. Irgendwie hatte sie ein schlechtes Gewissen. Vor einer Stunde war da noch so viel Trauer gewesen um die verlorenen romantisch-schönen alten Zeiten und jetzt gab sie sich selbst beinahe unpersönlich und sehr distanziert. »Es braucht immer zwei«, flüsterte eine Stimme in ihrem Inneren. Julia schluckte. Es musste sich etwas ändern, soviel war klar. »Aber nicht heute!« Sie drückte auf senden und schaltete das Telefon aus. »So, ich bin dann mal weg!«, sagte sie leise. Weg auf einem Ausflug zurück in eine Zeit, da die Probleme Matheklausur und ungespitzer Kajalstift hießen und nicht Roman und Beziehungskrise.

      ***

      Die Autobahn war wenig befahren. »Ungewöhnlich für einen Ferien-Freitag«, dachte Julia, »aber mir soll es recht sein.« Vermutlich waren meisten Urlauber schon in der Nacht auf die Reise gegangen. Jetzt teilte sie sich die dreispurige Autobahn mit wenigen LKW, die auf der rechten Spur in einer Art Kolonne unterwegs waren, ein paar Campingwagen auf dem Weg an die See und dem ein oder anderen Kleintransporter, der eilig an ihr vorbeizog.

      Julia genoss den Blick über gelb leuchtende Rapsfelder und grünen Waldgebiete. Schade nur, dass sie allein unterwegs war und die Begeisterung für so viel Schönheit mit niemandem teilen konnte.

      »Das hat mir gerade noch gefehlt.« Eilig drückte Julia den aktuellen Sender weg. »Dich, mein lieber Enrique, will ich jetzt ganz bestimmt nicht hören. Deine Landsmänner haben meinen Plan von einer gemeinsamen Tour mit Roman aufs Übelste durchkreuzt. Wären die wie geplant gekommen, dann säße mein Mann, der sich diese beiden Tage extra freigenommen hat, nämlich jetzt neben mir.« Auf halber Strecke wären sie abgefahren und hätten sich abseits der Autobahn ein ausgiebiges zweites Frühstück gegönnt. Dabei hätte sie ihm, sozusagen zur Einstimmung auf das Klassentreffen, ein paar Anekdoten erzählt von damals, als sie kurz vor dem Abitur stand: Von Oberstudienrat Kramer, der Latein so gut sprach wie Deutsch und Alt-Griechisch; von Dr. Kriegesbaum, der seinem Namen alle Ehre machte und von den Schülern hinter vorgehaltener Hand »Dr. Friedenseiche« genannt worden war. Sie hätte Frau Dr. Bach, die Biologielehrerin, die jedes Mal einen roten Kopf bekam, wenn es um Sexualität und Fortpflanzung ging, erwähnt und ihm vielleicht sogar von Sebastian erzählt, dem Jungen, in den sie lange verliebt gewesen war, ohne dass der jemals davon erfahren hatte. Sie hätte von rückblickend gar nicht so wilden Feten gesprochen, geschwänzten Seminaren oder Rebeccas angeblicher Schwangerschaft sieben Wochen vor dem Abiturtermin, die sie völlig panisch hatte werden