Auch Schmetterlinge können sterben. Martina Decker. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martina Decker
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738098952
Скачать книгу
zu suchen und endlich mal wieder ein gutes Buch zu lesen.

      Nicht mehr ganz so lustlos griff sie nach dem ersten Stapel lose aufeinanderliegender Blätter. Im gleichmäßigen Surren des Aktenvernichters schweiften ihre Gedanken immer wieder ab. Mal weilten sie in Sichtweite des Stapels mit ungelesenen Büchern, mal sprangen sie zurück zu dem hässlichen Streit mit Roman. Heimlich gestand sie ein, dass sie eindeutig ein ganz klitzekleines bisschen hysterisch gewesen war.

      Es war nicht Romans Schuld, dass die Spanier drei Tage zu früh gekommen waren; dass er deswegen nicht freimachen konnte und heute Abend mit den Sigñores und Sigñoras im noblen Restaurant Business & More speisen musste.

      Roman hatte sich darauf gefreut, mit auf ihr auf das Klassentreffen zu fahren. Ok, vielleicht nicht ganz so sehr, wie sie sich darauf gefreut hatte. Aber egal – gefreut ist gefreut!

      Was nichts an der Tatsache änderte, dass es schon wieder ordentlich gekracht hatte. Diese permanenten Streitereien wegen nahezu allem waren schon fast Alltag Ob es bei ihnen anders laufen würde, wenn sie eine richtige Familie geworden wären? Irgendwie hatten sie nie den richtigen Zeitpunkt gefunden, um eine Familie zu gründen. Während des Studiums waren Kinder kein Thema gewesen, danach hatte sie erst einmal beruflich durchstarten wollen. Roman war damit einverstanden gewesen.

      »Liebling, ich habe doch dich! Ich brauche kein Baby!«

      »Du bist süß!«, hatte sie ihm geantwortet. »Aber bis ich dreißig bin, haben wir eine ganz große Familie. Mindestens drei Kinder. Das verspreche ich dir.«

      Er hatte gelächelt und ihr einen sanften Kuss auf die Wange gegeben. »Wir werden sehen, Liebes.«

      Als Julias Kollegin letztes Jahr ein Baby bekam, war Julia hellauf begeistert gewesen. »Ich will auch endlich ein Baby«, hatte sie zu Roman gesagt.. »Die kleine Luise ist zum Anbeißen süß. Ich hätte sie am liebsten gar nicht mehr hergegeben.«

      »Ein eigenes Baby?« Roman sah sie völlig entgeistert an. »Liebling, das ist kein guter Zeitpunkt!«

      »Wenn wir uns immer nur um den besten Zeitpunkt Gedanken machen, werden wir nie Eltern.«

      »Und, was wäre daran so schlimm?«

      »Was daran schlimm wäre?« Jetzt war es Julia, die entgeistert guckte. »Schon vor unserer Hochzeit haben wir uns Kinder gewünscht. Mittlerweile sind wir fünfzehn Jahre verheiratet, haben ein wunderschönes Haus mit Garten und verdienen endlich genug Geld, um …«

      »Du hast dir Kinder gewünscht«, unterbrach er sie sanft.

      »Du nicht?«

      Er lachte kurz auf. »Ich brauche kein Baby! So ein kleiner Scheißer schreit den ganzen Tag, macht die Hosen voll und sabbert.«

      »Das ist jetzt nicht dein Ernst!« Hatte er das wirklich gesagt?

      »Julia, wir haben doch ein tolles Leben.« Er zog sie zu sich und sah ihr direkt in die Augen. »Wir können kommen und gehen, wie es uns gefällt. Können verreisen, wann und wohin wir wollen. Nichts stört unsere Nachtruhe und wenn wir den ganzen Tag im Bett bleiben wollen, ist das auch in Ordnung. Außerdem«, er strich ihr über die Brüste hinunter zum Bauch und bis hin zu den Oberschenkeln. »Das ist alles so schön straff und in Form. Willst du wirklich …«

      Julia schlug seine Hand weg und machte einen Schritt zurück. »Deswegen willst du kein Kind? Damit meine Brüste nicht hängen und der Bauch flach bleibt?«

      »Wenn du das sagst, klingt es, als wäre es ein Verbrechen, keine Kinder haben zu wollen.«

      »Du hast mir jahrelang was vorgemacht. Du hast mich belogen, betrogen …« Julia rang nach Worten.

      »Dein Hang zu Dramatik ist bewundernswert.« Er sah sie nachsichtig an. »Und jetzt krieg dich wieder ein. Wie gesagt, wir hatten doch bisher ein gutes Leben ohne Kind!«

      Sie war fast vierzig und beinahe zu alt für ein Baby. Roman und sie führten ein Leben zwischen Klienten, Besprechungen und Dienstreisen; ein Leben, in dem ein Kind, zumindest seiner Meinung nach, keinen Platz hatte.

      3

      Roman war schnell unter die Dusche gesprungen. Nachdem er das Memo doch kurz überflogen hatte, wollte er möglichst rasch in die Kanzlei. Es gab da eine Passage, die ihm nicht schlüssig schien. Das wollte er unbedingt noch mit Felizitas klären – vor der Besprechung.

      Nun stand er händeringend vor seinem Kleiderschrank und die gewonnene Zeit verrann sinnlos und ungenutzt. Julia hatte seine Hemden noch nicht aus der Reinigung abgeholt, stellte er missmutig fest. Zwar war die Auswahl groß, doch es war kein weißes Hemd darunter.

      »Lindgrün? Nicht zum dunkelblauen Sakko«, murmelte er. »Creme? Nicht gerade perfekt, aber eine vertretbare Notlösung.« Beim dritten Knopf entdeckte er den kleinen Kaffeefleck. Verärgert riss er das Hemd über den Kopf, ließ es auf den Boden fallen, griff widerwillig das hellblaue. Auch, wenn es hervorragend passte und seine eisblauen Augen noch eine Spur mehr strahlen ließ … Seit die Männer von der Firmensecurity blaue Hemden trugen, war diese Farbe einfach keine Option mehr. Warum hing das Teil überhaupt noch im Schrank? »Weil Julia der Meinung ist, es wäre zu schade für die Altkleidersammlung«, murrte er unwirsch und warf es zusammengeknüllt zu den anderen auf den Boden.

      Natürlich würde man ihn niemals für einen der Sicherheitsleute halten. Seine Anzüge sprachen eine völlig andere Sprache als die Uniformen aus billigem Synthetikgewebe. Natürlich konnte er trotzdem hellblaue Hemden tragen. Und natürlich konnte er … »Ich will aber nicht!«, sagte er verbissen und spürte, wie die Ader an der Schläfe anschwoll und das Blut aggressiv zu pulsieren begann. Die Zeit saß ihm im Nacken und er hatte nichts anzuziehen.

      Verdammt, warum hatte Julia die weißen Hemden nicht abgeholt? Sie das allerdings ausgerechnet jetzt zu fragen, wäre keine gute Idee - das war sogar ihm klar. Nach ihrem Wutausbruch hatte sie sich wie immer, wenn ihr etwas nicht passte, in ihrem Arbeitszimmer verschanzt. In letzter Zeit schien sie solche Ausbrüche regelrecht zu lieben. Sie regte sich über jede Kleinigkeit auf und nörgelte ständig an ihm und seinem Job herum. Dass dieser Job – zugegeben mit häufig miesen Arbeitszeiten – ihnen ein sorgloses Leben garantierte, ignorierte sie dabei geflissentlich. Die teuren Restaurants, das ein oder andere Designerkleid … Was glaubte sie eigentlich, wer das bezahlte? Sie mit ihrem Teilzeit-Lehrergehalt doch mal sicher nicht.

      »Nicht weiter darüber nachdenken«, rief er sich selbst zur Ruhe. Er war wütend, ja, aber er wollte sich da jetzt auf keinen Fall noch mehr reinsteigern. Das würde ihn nur ablenken und dafür war das anstehende Meeting einfach zu wichtig. Wenn sich Julia bis heute Abend nicht wieder abgeregt haben würde, dann musste und würde er reagieren. So wie in den letzten Wochen wollte er jedenfalls nicht weitermachen. Das war keine Ehe, das war eine Katastrophe!

      Energisch warf er die Kleiderschranktür zu. Julia sollte ruhig hören, wie wütend sie ihn mit ihrem Gezeter gemacht hatte. Vielleicht würde sie dann mal endlich über ihr Verhalten nachdenken und käme von selbst darauf, wie lächerlich das Ganze eigentlich war.

      ***

      Das Türenschlagen am Schrank war nicht zu überhören. Julia bemühte sich eisern, es zu ignorieren. Vermutlich suchte Roman nach einem Hemd. Roman suchte jeden Morgen nach dem richtigen Hemd, denn diesbezüglich hatte er seine ganz eigene Philosophie: dieses für Besprechungen mit den Mitarbeitern, jenes für Meetings mit Klienten, solches für Vertragsverhandlungen.

      »Und alle sind sie weiß!«, murmelte Julia. Aus dem romantischen Jurastudenten war ein erfolgreicher Lifestyle-Anwalt geworden; Arbeit, Klienten, Prestige und Statussymbole bestimmten sein Leben: Es musste das entsprechende Auto sein, das richtige Logo auf dem Hemd, die unverwechselbare Gürtelschnalle. »Das ist das Geheimnis meines Erfolgs. Du bist, wie du auftrittst. Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance.«

      Selbstverständlich sollte er sich schick anziehen und sich natürlich auch den Gepflogenheiten seines Berufsstandes anpassen. Aber man konnte es auch übertreiben. Wer brauchte zwanzig weiße