Theodor
Der achtjährige Lasse rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Der blasse Junge mit dem blonden Seitenscheitel wartete schon begierig bis er an der Reihe war, in den Korb mit den Aufbackbrötchen zu greifen. Theodor beobachtete ihn scharf. Hier hatte ihre Erziehung also bereits gefruchtet. Schluss mit den Zeiten, als der Junge sich halb über den Tisch geworfen hatte oder den Korb einer seiner Schwestern aus der Hand riss. Donnerwetter hatte es zu genüge gegeben. Nach oben in sein Zimmer hatten sie ihn geschickt. Geschrien und geheult hatte er, als die Konsequenz Brot statt Brötchen gelautet hatte. Nun beobachtete Theodor einen Achtjährigen, der sich mit ganzer innerer Kraft zu kontrollieren versuchte und dessen Körper dabei unruhig hin und hersprang. Theodor bekam den Korb von Frauke gereicht. Er nahm sich daraus ein Brötchen, ohne lang zu überlegen. Es gab zwei Sorten: mit oder ohne Körnern, aber sie schmeckten beide gleich. Dann reichte er den Korb an Katharina, die neben ihm saß. Er hätte ihn auch dem schräg gegenübersitzenden Lasse geben können. Sie hatten da keine feste Reihenfolge, bis auf das Mutter und Vater sich zuerst nahmen. Aber der Junge sollte ruhig noch warten. Die Erziehung hatte gefruchtet, und wenn er den Bogen jetzt überspannte, dann gab es eben noch ein Donnerwetter und Lasse würde weiter lernen müssen, sich zu beherrschen. `Fünf Jahre´, dachte Theodor, `fünf Jahre lang habe ich mich beherrscht. Ach was fünf.´ Verheiratet waren sie nun schon fast fünfzehn Jahre. Er verdrängte den Gedanken schnell wieder. Die vierjährige Katharina wiegte den Korb in der Hand und meckerte: „Da sind fünf Brötchen drin. Ich will zwei.“ „Ich möchte zwei“, schaltete sich Frauke ein. „Ich will auch zwei“, plärrte Luise ihrer Schwester nach. „Ich möchte“, ermahnte Frauke erneut. „Ich will!“, beharrte Luise. Wie auf Knopfdruck kullerten Tränen aus ihren Augen. „Ich habe es zuerst gesagt!“, schrie Katharina und versuchte sich zwei Brötchen auf einmal zu angeln. Bevor Theodor eingreifen konnte, platzte Lasse der Kragen. „Geb endlich den Korb her! Ich habe noch überhaupt kein Brötchen!“, schrie er quer über den Tisch. „Gib, heißt das!“, fauchte Theodor und entriss seiner Tochter den Korb. Sie wehrte sich und nach einem kleinen Gerangel fiel eines der Brötchen zu Boden. „Da siehst du, was du angerichtet hast!“, platzte es aus Theodor heraus, „heb es auf!“ Sofort entglitten auch Katharinas Gesichtszüge. Alles Glatte und Pausbäckige an ihr verwandelte sich in eine faltige Heulgrimasse. „Nein, mach ich nicht“, rief sie durch die Heulgrimasse hindurch. Es klang aber eher nach Feuerwehrsirene. „Und ob du das machst!“ Theodors Stimmlage wurde bedrohlicher. Plötzlich erschien Lasses Kopf neben ihm. Aber nur kurz, denn der Junge bückte sich sofort und tauchte nach dem Brötchen. Theodor hielt ihn am Pullover fest. „Du nicht! Deine Schwester hebt das auf!“ „Aber Theo!“, beschwerte sich Frauke. Fragend sah Theodor sie an. Was hatte er nun wieder falsch gemacht? Seine Frau, die Erzieherin mit Diplom, hatte so etwas wie die Erziehungshoheit in der Familie, auch wenn sich Theodor immer wieder dagegen sträubte. „Was?!“, er blinzelte sie an und hielt dabei mit der einen Hand den verzweifelten Lasse am Pullover gepackt und mit der anderen den Brötchenkorb mit den übriggebliebenen vier Brötchen in die Höhe. „Wenn er seiner Schwester doch helfen will.“ „Er will ihr nicht helfen, er will das Brötchen. Sogar vom Boden.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Dann lass es ihn halt vom Boden nehmen. Ich will es nicht mehr.“ Mit einem Ruck zog Theodor Lasse endgültig vom Brötchen fort. „Nein, du setzt dich hin. Und du“, er zeigte auf Katharina, „hebst es sofort auf oder du isst Brot.“ Katharina sah ihre Mutter an und heulte noch lauter. Auch Luise weinte jetzt mit ihrer Schwester, dabei schrie sie immer wieder: „Brötchen, Brötchen!“ Lasse trollte sich wie ein verwunderter Hund zurück auf seinen Platz. Mit böser Kleinjungenmine starrte er von dort aus seinen Vater an. Frauke seufzte. „Nun heb es bitte auf, Katharina! Wir wollten Papa doch ein schönes Abschiedsfrühstück bereiten.“ „Schon geschehen“, brummte Theodor und in diesem Augenblick sehnte er sich nach nichts mehr als nach einem Wochenende außerhalb der Familie. „Ihr habt doch noch etwas für euren Vater“, fuhr Frauke fort. Katharina rutschte von ihrem Stuhl, hob das Brötchen auf und versuchte, es in den Korb zu werfen. Sie warf aber daneben und das Rundstück landete scheppernd auf Theodors Teller. „Pass doch auf!“, zischte er, nahm es auf und legte es in den Korb. „Ich hab nix für Papa“, bellte Lasse und versuchte seinen ausgebeulten Pullover gerade zu ziehen. Schmollend fügte er hinzu: „Ich will ein Brötchen!“ „Ich möchte heißt das, verdammt, wie oft sollen wir euch das noch sagen“, bellte Theodor zurück. „Theodor!“, rief Frauke entsetzt und setzte dann ruhiger hinzu: „Die Kinder wollen ein Lied für dich singen.“ `Auch das noch´, dachte Theodor. Laut konnte er gar nichts mehr sagen. Er wollte nun auch endlich ein Brötchen essen und am liebsten wollte er, dass jeder am Tisch Brötchen aß und keiner mehr redete, geschweige denn sang. „Ich will nicht singen!“, rief Katharina wütend und Luise äffte sofort ihre Schwester nach: „Ich auch