„Hör auf“, schimpfte sie leise mit sich selbst. „Natürlich ist der Wald lebendig. Sonst würde er ja nicht wachsen. Aber deshalb kann er nicht dicht und dunkel werden, um mich zu ärgern!“
Sie blieb stehen. Leckte sich nervös über die Lippen.
Uuuhhhhh.
Das Geheul war nähergekommen.
Ganz sicher!
Sie rieb über ihre Arme und schluckte ängstlich. Allmählich verlor sie jeden Rest an Mut, den sie besessen hatte. Was für Untiere auch immer in diesem Wald hausten, sie hatten keine Schwierigkeiten, sich in der Dunkelheit zurechtzufinden.
Hastig stolperte Kjellrun weiter. Etwas schneller. Was sollte sie sich vorsichtig den Boden entlangtasten? Sie musste vorwärtskommen und rasch dem undurchdringlichen Wald entfliehen. Sie war schließlich kein Waldbewohner! Wenn sie erst außerhalb der bedrohlichen Baumriesen war, freie Landschaft vor sich hatte, dann würde sie auch anhand der Sterne erkennen, wohin sie gehen musste. Der Svartskog konnte doch nicht unendlich sein, irgendwann musste sie den Waldrand sehen.
Uuuhhhhh.
„Bei allen Eislichtern!“, murmelte sie furchtsam und schlich geduckt weiter, eine Hand an der Stelle, wo sich ihr Gürtel mit Messer und Wurfpfeilen befand. „Es gibt keine Untiere, es gibt keine Eisjungfer, es gibt keinen ... oder vielleicht doch?“ Sie wagte nicht, seinen Namen erneut auszusprechen. Wenn Wuldor tatsächlich der Herrscher der Welt war, würde er sicher ihre Worte hören und sie gar nicht lustig finden. Also schlich sie lieber vorsichtig weiter, suchte sich ihren Weg durch den Wald und ertrug das schaurige Heulen.
Irgendwann standen die Bäume so dicht, dass Kjellrun nur noch seitlich an ihnen vorbeikam. Dabei war sie ein schlankes Mädchen. Wie konnte das nur sein? Welcher Wald hatte so dicht wachsende Bäume? Sie nahmen sich doch gegenseitig die Nahrung aus dem Boden fort! Hier stimmte etwas nicht. Ganz und gar nicht! War das etwa Wuldors Magie? Strafte er sie jetzt, weil sie zu wenig an ihn geglaubt hatte?
Mit den Fingern tastete sie die Stämme entlang. Kalt. Rau. Sie spürte feine Ritzen zwischen den Borken, in denen sich sicherlich mancherlei Käfer verstecken konnten. Hastig zog sie die Hände zurück. Ganz bestimmt wollte sie keine Käfer auf sich herumkrabbeln haben! Vielleicht hatten sich bereits einige in ihren Haaren verfangen? Ein Schauder rann ihren Rücken hinab und sie glaubte überall ein Kribbeln und Krabbeln zu spüren. Sich vor Ekel schüttelnd kämpfte sie sich zwischen den Stämmen hindurch.
Dann sah sie sie. Orange leuchtend. Unheimliche runde Flecken in der Dunkelheit. Kjellrun blieb zwischen zwei Stämmen stehen und presste sich mit dem Rücken so fest an einen, dass sie glaubte, jede Kerbe in ihm zu spüren, jeden Riss in der groben Borke.
Eins, zwei, drei, vier ... In Gedanken zählte sie die leuchtenden Punkte, die starr in der Luft zu schweben schienen. Waren das die Krieger von Wuldor? Würde er sie jetzt holen? Bei allen Eislichtern, hatte ihre Mutter vielleicht recht gehabt mit ihren Warnungen und gleich war es vorbei mit ihrem Leben, mit ihrer dummen Flucht?
Bedrohlich schimmerten die orangenen Punkte zu ihr herüber. Wie kleine Feuer. Es dauerte einen Moment, ehe eine Erkenntnis ihre Gedanken flutete. „Augen!“ Erschrocken entwich ihr das Wort, bevor sie sich daran hindern konnte. Ängstlich riss sie ihre silbergrauen Augen weit auf und schlug die rechte Hand vor ihren Mund. Als ob sie so den Ausruf ungeschehen machen könnte. Ihr Herz begann heftig zu schlagen, fast schon schmerzhaft pochte es in ihrer Brust.
Grrrr ...
Kein Heulen drang zu ihr, sondern ein tiefes, kehliges Knurren. Die Punkte rührten sich nicht. Doch das Geräusch wurde lauter.
Kjellrun drehte den Kopf und entdeckte weitere leuchtende Flecken, so groß wie die Knochenknöpfe, mit denen sie ihren Umhang zusammenhielt. Aber sie wusste genau, dass diese Feuerpunkte aus der Nähe um ein Vielfaches größer waren. Hektisch blinzelte sie, um die Tränen zurückzuhalten. Ihr Herz pochte lauter und heftiger. Wenn Thore irgendwo in der Nähe nach ihr suchte, würde er es bestimmt hören können und sie retten! Er musste sie einfach retten!
Ganz, ganz langsam rutschte Kjellrun den Stamm hinunter und zog ihr Messer hervor. Sie versuchte sich so klein zusammen zu kauern, wie sie nur konnte, und hielt das Messer vor ihrer Brust mit beiden Händen umklammert. Wenn sie mit der Dunkelheit verschmolz, vielleicht sahen diese Ungeheuer mit den brennenden Augen sie dann nicht und liefen einfach weiter?
Meine Haare!, schoss es ihr durch den Kopf. Hastig legte sie das Messer neben sich und zog mit zittrigen Fingern die Kapuze des Umhangs über ihren hellen Zopf und so tief über die Stirn, dass nur noch ihr bleiches Gesicht hervorleuchten konnte. Während sie nach ihrem Messer tastete, bahnte sich Erleichterung einen Weg durch ihren Körper. Dabei wusste sie tief in sich, das war Unsinn. Die Jägerin in ihr kannte die empfindlichen Nasen der Jagdtiere. Diese Wesen dort vor ihr hatten sie längst gerochen. Sonst hätten sie sich nicht in einem Kreis um sie herum geschart, obwohl das bei den eng stehenden Bäumen eigentlich nicht möglich war.
Warum warten sie dort?, fragte sie sich und drehte vorsichtig den Kopf, um zu zählen. Aus zwei Augenpaaren waren mittlerweile sechs geworden. Wenn das so weiter ging, brauchte sie sich keine Gedanken mehr über die Dunkelheit machen oder wie sie nach Ulvershom finden sollte. Denn dann war sie in Stücke gerissen und zu einer Festmahlzeit für eine Meute ... von was eigentlich? ... geworden.
Waren es Eisfüchse? Aber die hätten ihre Augen viel näher am Boden, da sie klein waren.
Waren es Wildschweine? Nein, die hatten kleine, winzig kleine, schwarze Augen, keine so leuchtenden, orangenen.
Aber Eisfüchse hatten auch keine leuchtenden Augen. Außerdem kannte Kjellrun kein einziges Tier, das orangene Augen hatte.
Ihr Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Die Mutter hatte recht gehabt mit ihren Geschichten über die Ewige Eisjungfer und über Wuldor. Es waren keine Schauermärchen gewesen, um ungehorsame Kinder zu braven Helfern heranzuziehen. Alle Warnungen entsprachen der Wahrheit. Alle! Diese Wesen um sie herum konnten keine normalen Waldtiere sein. Der ganze Wald konnte nicht normal sein. Wuldor und die Ewige Eisjungfer hatten diese Wesen erschaffen, um nach Jungfrauen zu suchen. Die Wesen dort vorne würden sie jagen, zu Wuldor treiben und sie dann seiner Gnade ausliefern. Ganz sicher.
Noch während sie über ihre aussichtlose Lage nachdachte, kamen die Punkte näher.
Grrrr ...
Auch das Knurren kam näher. War da nicht sogar ein beißender Geruch von nassem Fell? Obwohl es völlig unmöglich war, spürte sie einen warmen Atem in ihrem Nacken. Panisch drehte sie den Kopf. Sie starrte direkt in silberne Augen, glitzernd wie kleine Eisflocken inmitten einer dunklen Nacht.
Wölfe.
Nur dieses eine Wort zuckte durch ihre Gedanken. Bewegungslos kauerte sie am Boden, fühlte den durchdringenden Blick des Tieres vor sich. Ihr Herz schlug so laut, dass diese Bestie es bestimmt fühlen konnte. Am Rande ihres Bewusstseins erinnerte sie sich an das Messer. Doch sie wagte nicht, weiter danach zu tasten. Wie erstarrt blickte sie das Ungeheuer an.
Grrrr ... Leise knurrte der Wolf, hob seine Lefzen. Scharfe, lange Eckzähne kamen zum Vorschein, schneeweiße, kleine, spitze Zähne dazwischen. Ein furchterregendes Gebiss. Die Eckzähne waren bestimmt so lang wie ihre Hand. Und die Schnauze war so nah vor ihrem Gesicht, dass sie das Vibrieren seines Knurrens an ihren Wangen fühlte.
Tränen schossen Kjellrun in die Augen. So hatte sie sich ihren Tod nicht vorgestellt. Dieses Tier würde sie bestimmt nicht zu Wuldor treiben. Es würde gleich die Schnauze weit aufreißen und ... Kjellrun presste ihre Augen fest zusammen, verdrängte die salzigen Tränen. Ihr gesamtes Gesicht verzog sich, als ob sie große Schmerzen hätte, dabei war ihr klar, wenn erst alle Wölfe über sie herfielen, würde sie nicht lange leiden. Ihre Seele würde kaum schnell genug entweichen