Kapitel 2
KJELLRUN
Kjellrun wachte sehr früh auf, so früh, dass sie die Hütte noch nicht verlassen durfte. Obwohl sie nichts von den Sagen der Alten hielt, musste sie ja doch nichts herausfordern. Vielleicht galten hier im Dorf andere Regeln als später unterwegs, wenn sie nach Ulvershom gehen würde. Denn das hatte sie nun beschlossen. Ulvershom war ihr Ziel, um mehr über die Mutter und den Vater herauszufinden. Vielleicht traf sie dort auch endlich auf Leute, die aussahen wie sie: weißblonde Haare und silbergraue Augen.
Ungeduldig stand sie an ihrem Fenster und starrte hinaus, beobachtete die Schatten, die immer kleiner wurden, je höher das Licht stieg. Sie musste den richtigen Zeitpunkt finden. Nur etwas zu lang und die Mutter würde wach werden und sie nicht fortlassen. Oder, was noch viel schlimmer wäre, Thore stand vor der Tür, um sie zur Jagd abzuholen. Wenn sie ihm in die Arme lief, dann war sie verloren. Gegen den großen, starken Mann kam sie nicht an. Vor ihrer Mutter gegen Thore kämpfen, nein, das konnte sie niemals tun. Es würde ihr das Herz brechen.
Genau in dem Augenblick, als der letzte Hauch von Schatten vom Himmel aufgesogen wurde, schnappte sie sich ihren kleinen Rucksack, den sie mit ein paar Kräutern, Eisbeeren und einem Trinkschlauch befüllt hatte. Vorsichtig sprang sie zum Fenster hinaus und lief geduckt zur Hütte, in der Sjard mit seinen Eltern und Geschwistern wohnte. Leider schlief er mit seinen zwei Brüdern in einer Kammer, so würde es nicht leicht sein, ihn allein zu sprechen. Zumindest erreichte sie nicht nur seine Hütte unbehelligt, auch bis zu seinem Fenster kam sie problemlos. Sie blickte nervös um sich, ließ den Rucksack vorsichtig in den Schnee gleiten und dann kletterte sie so leise wie möglich in den Raum. Bei allen Seelen des Reiches! Sie musste sich sputen, die Zeit drängte und gewiss würde Thore sie genau hier vermuten, wenn er sie nicht bei Ingvild traf.
Kjellrun hielt den Atem an, als sie über Skalle stieg, der mit ausgebreiteten Armen auf seiner Matte schlief. Wie konnte man nur so schlafen? Fror er denn gar nicht? Jetzt musste sie irgendwie über Kimi hinweg gelangen, der älter und größer als sie war. Sein Leibesumfang machte es ihr nicht gerade leicht. Wieso nur war ihre Schlafkammer so winzig, dass Kimi fast schon an die Seitenwände anstieß?
Sie atmete ein paar Mal ein und aus, dann hob sie ihr Bein setzte zum Sprung an. Wenn Kimi sich jetzt bewegte, würde sie auch ihn treten und alles wäre vorbei.
Es muss gelingen, es muss gelingen!, dachte Kjellrun, stieß sich ab und landete dicht neben Kimis breiter Brust. Mit wild klopfendem Herzen blieb sie einen Moment da stehen. Sie musste ihre Atmung wieder unter Kontrolle bekommen, sonst konnte sie nicht mit Sjard reden. Das aber war ihr so wichtig, dass sie es riskierte, hier erwischt zu werden.
Endlich verlangsamte sich ihr Herzschlag und sie konnte wieder gleichmäßig atmen. Langsam drehte sie ihren Kopf und schaute zu Kimi und Skalle hinunter. Die beiden rührten sich nicht, dafür schnarchte Kimi ziemlich laut. Seine Frau würde sich später sicher nicht darüber freuen. Kjellrun grinste, erinnerte sich aber schnell, dass sie selbst wegen dieser Mann-Frau-Geschichte hier war. Sie hockte sich und beugte sich so tief hinunter zu Sjard, wie sie nur konnte. Auf keinen Fall durften ihre Worte diesen Raum verlassen. Sie war sich sicher, dass Tessa, die Mutter der Jungen, schon wach war und das Frühstück für die Familie zubereitete. Das bedeutete auch, dass ihre eigene Mutter bald aufstand und bemerken würde, dass die Schlafstelle der Tochter leer war. Jetzt kam es auf jeden Augenblick an!
„Sjard, wach auf, ich muss dringend mit dir reden!“
Natürlich wachte er nicht auf. Wer reagierte schon auf ein Flüstern, wenn die schnarchenden Geräusche im Raum viel lauter waren? Deshalb zupfte sie vorsichtig an seinem Ohr und wiederholte ihre Worte. Sjard hob eine Hand, um nach dem lästigen Wesen an seinem Ohr zu schlagen. Kjellrun hielt die Hand fest und flüsterte nachdrücklicher: „Wach auf!“
Jetzt stöhnte er unwillig, versuchte seine Hand loszureißen und als es ihm nicht gelang, schlug er die Augen auf. „Kjellrun?“, murmelte er ungläubig.
„Shh, ich muss mit dir reden, dringend!“
„Hier?“ Entgeistert schaute er sie an. Der Schreck machte ihn schlagartig wach. „Wenn dich jemand erwischt, wie du in einem Raum mit drei schlafenden Männern bist, dann kriegen wir alle Ärger! Vor allem weiß ich nicht, wer dich dann beanspruchen soll?“
Sie rollte mit den Augen und schüttelte den Kopf. „Darum geht es ja, ich muss hier weg, damit mich niemand beanspruchen kann.“
„Häh?“
„Thore will mich heute mit auf die Jagd nehmen. Aber da bin ich schon weg. Ich bin auf dem Weg nach Ulvershom und wollte dich bitten, auf meine Mutter achtzugeben.“
„Ulvershom?“
„Ja, dort kommt meine Mutter her. Ich muss da hin und mehr über meine Eltern erfahren und über mich.“
„Du spinnst! Bleib hier. Also, ich meine ... nicht in diesem Raum!“, verbesserte sich Sjard hastig. „Du bleibst hier im Dorf, gehst mit Thore auf die Jagd und für dich und deine Mutter ist bis zum Ende gesorgt.“
„Jetzt spinnst du! Ich kann doch nicht Thore ranlassen! Da lege ich mich lieber jetzt gleich neben dich und behaupte, wir hätten nicht mehr abwarten können.“
Geschockt schaute Sjard sie an. Er war sich nicht sicher, ob Kjellrun es ernst meinte. Sie war anders als alle Mädchen. Sie war auch schon viel zu alt, um noch keinen Mann gehabt zu haben. Aber dass sie lieber von ihm als vom starken Thore entjungfert werden wollte, war pure Dummheit! Er war fünfzehn, noch ein Lernender und selbst Jungfrau. Ganz bestimmt würde er nicht mit seiner besten Freundin ... niemals! Zumindest nicht in den nächsten Monaten.
„Ich meins Ernst, Sjard. Ich werde niemals mit Thore gehen. Niemals! Eher laufe ich in der Dämmerung nach draußen und lasse mich von der Eisjungfer holen.“
Entsetzt schlug Sjard das Abwehrzeichen, einen großen äußeren und einen kleinen inneren Kreis. Angeblich sollte das gegen die Kälte der Eisjungfer helfen, die einen tief im Inneren erfror. „Wie kannst du sie in meinem Beisein nennen? Außerdem ist Skalle auch noch Jungfrau. Bei Kimi bin ich mir nicht sicher, aber riskieren möchte ich trotzdem nichts. Und jetzt klettre sofort wieder aus dem Fenster!“
Enttäuscht blickte sie auf ihren Freund hinunter. Seufzend richtete sie sich auf, drehte sich und machte sich traurig auf den Rückweg. Als sie beim Fenster ankam, musste sie gegen ihre Tränen ankämpfen. Sie hatte so gehofft, dass Sjard nach ihrer Mutter sehen würde. Nun würde ihre arme Mutter erneut um Hilfe betteln müssen. Aber ob man sie ihr gewähren würde, war mehr als ungewiss. Immerhin würde sie Thore gegen sich haben. Wer aber Thore gegen sich hatte, der hatte das Dorf gegen sich. Es war so ungerecht!
Mit blinzelnden Augen kletterte sie nach draußen. Sie hörte Stimmen und sah vereinzelte Personen aus ihren Hütten kommen. Das war gar nicht gut! Sie musste sich beeilen, sonst hatte sie keine Chance. Thore war schließlich ein guter Jäger. Und sie, da war sich Kjellrun sicher, war in seinen Augen eine begehrenswerte Beute.
Geduckt blickte sie um sich und suchte nach einem möglichst gefahrlosen Weg an den Hütten vorbei zum Wald. Nur dort, im dichten Unterholz, würde sie eine Chance haben zu entkommen. Möglichst geräuschlos schlich sie von Haus zu Haus, hielt inne, wenn jemand in der Nähe einen Fensterladen aufklappte oder ein Tuch aus einer Öffnung schüttelte.
Kjellrun hatte das Gefühl, als brauchte sie Stunden. Nie war ihr ein Weg so lang vorgekommen, so entsetzlich, unendlich lang! Ihr Herz raste, das Blut rauschte schnell und wild durch ihre Adern. Kaum konnte sie ihre Atmung bändigen. Aber sie wusste genau, laute Atemzüge oder