Kapitel 7
KJELLRUN
„Wenn wir weit genug nach Norden gehen und aus dem Svartskog herauskommen“, schlug Kjellrun vor, „dann müssen wir nur außen herumlaufen und kommen doch auch in Ulvershom an.“
„Bist du schon an die nördliche Grenze des Svartskog gelaufen?“ Sjard blieb nicht stehen und schien auch nichts von ihrem Vorschlag zu halten. Allmählich kam sich Kjellrun schrecklich bevormundet vor. Dabei war sie älter als er und sollte entscheiden, wo es langging.
„Nein, natürlich nicht“, erwiderte sie gereizt. „Meine Mutter hat viel zu viel Angst vor dieser Eisjungfer. Ich musste immer vor Einbruch der Dunkelheit zuhause sein. Wie sollte ich da den Wald erforschen?“
Hastig machte Sjard das Schutzzeichen und warf Kjellrun einen bösen Blick zu. „Du sollst den Namen nicht aussprechen! Das ist gefährlich!“
„Wir sind schon den ganzen Tag hier in den Schatten unterwegs und nichts ist passiert. Also kann es gar nicht so gefährlich sein.“
„Überleg doch mal. Hier ist es zwar schattig, aber draußen, außerhalb vom Wald, ist es noch taghell. Gefährlich wird es in der Dämmerung und Nacht“, belehrte Sjard sie. „Wenn du aber immer so unbedacht sprichst, wird es dir auch zur unpassenden Zeit herausrutschen. Dann kann ich dir nicht mehr helfen!“
An seinem Tonfall erkannte Kjellrun, dass er es wirklich ernst meinte. Er glaubte tatsächlich an all die Schauergeschichten. Na gut, sie musste gestehen, dass sie selbst auch angefangen hatte, an Wuldor und die Ewige Eisjungfer zu glauben, als diese schwarze Gestalt und all die feurigen Augen aufgetaucht waren. Aber jetzt, gemeinsam mit ihrem Freund, fühlte sie sich sicher und stark und kam mehr und mehr zur Überzeugung, dass sie sich vorhin alles nur eingebildet hatte. Immerhin hatte Sjard weder Wölfe noch dunkle Gestalten herumhuschen gesehen. Weshalb sie allerdings im nördlichen Wald von ihm gefunden worden war, obwohl sie immer nach Westen gegangen war, darüber wollte sie lieber nicht grübeln.
„Weißt du denn, wie weit der Wald in den Norden reicht?“, kam sie zurück zu ihrem ersten Thema.
„Mehr als eine Tagesreise“, erwiderte Sjard.
„Woher weißt du das so genau?“
„Weil ich mit ein paar Freunden jenseits des Waldes jagen wollte. Das ist schon einige Zeit her“, erklärte Sjard. „Wir haben jeder einen Rucksack mit einem Trinkschlauch und Fladenbrot mitgenommen. Außerdem sind wir zu viert losgezogen, damit wie einander beschützen konnten. Bis dahin hat ja niemand von uns gewusst, wie weit oder gefährlich es werden könnte.“
Kjellrun wunderte sich, dass Thore es nie ausprobiert hatte. Immerhin war er doch der beste und erfahrenste Jäger. Wahrscheinlich hatte er es für unsinnig gehalten. Schließlich fand er um das Dorf herum immer reichlich Jagdbeute.
„Wie haben zwischendurch Baumspringer gejagt und über einem kleinen Feuer geröstet. Es war schon sehr spät, die Sonne bereits am Rand der Welt, als wir endlich bemerkten, dass der Svartskog lichter wurde. So haben wir ein paar gute Bäume ausgewählt, sind hinaufgeklettert und haben in den Baumwipfeln übernachtet. Glaub mir, das willst du nicht machen müssen. Wir haben alle vier kaum ein Auge zugemacht.“
„Bestimmt hattet ihr Angst herunterzufallen.“ Kjellrun grinste bei dem Gedanken.
„Nein, wir haben Geräusche gehört, die es in unserem Dorf nicht gibt. Eigenartiges Schlürfen, Heulen von Wölfen. Es gibt Tiere und Gestalten, von denen haben wir in unserem Dorf keine Ahnung. Und ich will auch gar keine Ahnung von all den sonderbaren Wesen haben.“ Sjard schüttelte sich. Es herrschte einen Moment Stille, bevor er weitererzählte. „Am nächsten Morgen haben wir sehr früh die Bäume verlassen und sind durch das Gestrüpp zum äußeren Rand gestiegen. Was wir vorfanden, lud uns aber nicht gerade zur Jagd ein. Eine riesige, weiße Schneefläche lag vor uns. Gleißend und glitzernd, obwohl die Sonne kaum aufgegangen war. Wir sind ein paar Schritte gegangen, doch konnten wir keine einzige Spur entdecken. So haben wir uns getrennt und sind mit reichlich Abstand voneinander vorwärtsmarschiert. Nichts. Nicht eine winzige Spur. Nicht einmal von einer Schneemaus! Im Norden vom Svartskog ist das ewige Nichts und das so blendend hell, dass du gar nicht lange gehen kannst, bevor deine Augen tränen und dein Kopf schmerzt. Wir sind dann rasch umgekehrt und in den Wald zurück. Dort haben wir unser restliches Brot und das Wasser verzehrt. Als unsere Augen wieder klar sehen konnten, haben wir uns auf den Rückweg gemacht.“
„Warum hast du mir nie davon erzählt?“
„Weil ich nicht wollte, dass du Dummheiten machst und dorthin gehst, um zu prüfen, ob wir die Wahrheit gesagt haben.“ Sjard blieb stehen und drehte sich zu ihr. Mit einem ernsten Blick schaute er sie an. „Kjellrun, du bist das wohl sturköpfigste Mädchen von ganz Hjolmfort. Manchmal denke ich mir sogar, du wärst besser als Mann wiedergeboren. Deine Seele scheint so gar nichts mit den demütigen Frauen gemeinsam zu haben.“
In Kjellrun begann das Blut zu brodeln. Solche Worte machten sie wütend. Was hatte denn Demut mit Frausein zu tun? Wie hätte sie je genug Fleisch nach Hause bringen können, wenn sie demütig ihr Haupt vor den Tieren geneigt hätte? Wollte Sjard ihr jetzt zum Vorwurf machen, dass ihre Mutter keinen Sohn geboren hatte?
„Ich merke, wie du wütend wirst“, sagte Sjard kopfschüttelnd. „Auch das passt so überhaupt nicht zu einer Frau. Wenn ich dich so erlebe, muss ich an Thore denken. Der kann auch so zornig werden.“
Kjellrun presste die Lippen fest aufeinander, um nichts Falsches zu sagen. Sie musste es noch einige Zeit mit Sjard aushalten. Dabei machte es sie wirklich, so wirklich richtig wütend, dass er sie ausgerechnet mit Thore verglich! Dazu immer dieses unsinnige Gerede über das Frausein und Demut. Was sollte der Unfug? Früher hatte er nie sowas gesagt.
„Lass uns weitergehen. Wenn ich den Sonnenstand richtig deute, werden wir eine Nacht im Wald verbringen müssen. Aber eine zweite Nacht möchte ich nicht hier erleben. Also beeilen wir uns besser, so rasch wie möglich den westlichen Waldrand zu erreichen.“
Mit fest zusammengepressten Lippen rannte Kjellrun neben ihm her. Sie würde gar nichts mehr sagen. Den ganzen Weg nicht. Egal, wie lange sie unterwegs sein würden, ein Gespräch mit Sjard brachte gar nichts. Irgendwie hatte er es sich in den Kopf gesetzt, sie nicht mehr als ebenbürtige Jägerin zu betrachten, sondern als rebellische Frau, die an ihre wahre Bestimmung erinnert werden musste.
Kjellrun wusste nicht, wie lange sie schon unterwegs waren, doch schließlich ließ die Spannung in ihren Lippen nach. Es tat einfach weh, sie zusammenzupressen. Sjard bemerkte es sowieso nicht, weil seine Augen auf den Weg vor ihnen gerichtet waren und er nur Halt machte, um ab und zu Zeichen in einen Stamm zu ritzen.
Noch eine Weile später spürte sie eine Unruhe in sich aufsteigen. Ein natürliches Bedürfnis verlangte danach, dass sie eine Pause machte. Aber auf gar keinen Fall wollte sie sich als erste melden. Wie schaffte es Sjard nur, so lange durchzuhalten? Hatten Männer da Vorteile gegenüber Frauen? Oder lag es daran, dass er später aufgebrochen war, während sie selbst seit dem Sonnenaufgang unterwegs war?
Schritt um Schritt quälte sie sich neben ihm her. Je länger sie sich zu beherrschen versuchte, desto schlimmer wurde es. Erste Schweißperlen bildeten sich auf ihrer Stirn und ihre Atmung wurde schneller und flacher. Um durchzuhalten, dachte sie krampfhaft immer das Gleiche: Noch ein Schritt, noch ein Schritt, noch ein Schritt.
Irgendwann blieb Sjard an einem Baum stehen, machte ein Zeichen und sagte wie beiläufig: „Wir machen hier eine kurze Rast. Ich muss mal einen Augenblick allein sein.“
Das war eine höfliche Umschreibung dafür, dass er sich erleichtern musste und dabei ungestört sein wollte. Am liebsten wäre sie ihm um den Hals gefallen vor Erleichterung. Kaum war er hinter einem Baum verschwunden, suchte sie sich selbst einen geeigneten Platz. Obwohl ihr mittlerweile jeder Platz geeignet schien, solange Sichtschutz vor Sjard bestand. Bei allen Eislichtern! Nie hätte sie gedacht, dass es so befreiend sein konnte! Fast fühlte sie sich erschöpft, als der Druck endlich vorbei