Eisjungfer. Dina Sander. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dina Sander
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752909715
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auf ihren Bauch und sie folgte seinem Blick.

      „Wann hast du das letzte Mal gegessen?“

      „Äh ... gestern Nachmittag?“ Verlegen sah sie ihn an. Auch das zeigte ihm klar, was für eine schlechte Jägerin sie war. Denn stundenlang laufen, ohne etwas zu essen oder zu trinken, erschöpfte den Körper und machte ihn für die Jagd auf Beute untauglich. Sie hätte immer mal wieder zwischendurch einen Brocken Brot oder ein Stück Fleisch essen müssen. Im schlimmsten Fall hätte sie Beeren auflesen müssen und in den Mund stopfen. Sein Blick schien sie zu durchbohren. Natürlich wurde ihm spätestens jetzt klar, dass sie keinen Rucksack bei sich trug, keine Tasche, keinen Beutel, rein gar nichts, um Proviant zu transportieren.

      Sjard sagte nichts.

      Kjellrun war nicht sicher, ob sein Schweigen nicht schlimmer war, als wenn er ihr einen belehrenden Vortrag gehalten hätte. Sie versuchte, einfach seinem Blick standzuhalten. Es gelang ihr so lange, bis ihr Magen erneut laut knurrte.

      „Bei allen Seelen des Reiches, wie konntest du nur deinen Rucksack vor meinem Fenster vergessen, Kjellrun?“

      „Ich hatte es eilig und du warst so unfreundlich und dann sind immer mehr Leute aufgewacht“, sagte Kjellrun kleinlaut. „Ich wollte doch am Abend schon in Ulvershom sein, da ist Wegzehrung gar nicht so wichtig. Außerdem habe ich Wurfpfeile und mein Messer mitgenommen, um notfalls zu jagen. Aber dann waren da die Wölfe und ich habe mein Messer verloren.“

      „Kjellrun“, unterbrach Sjard sie, „es gibt im Svartskog keine Wölfe, das habe ich vorhin schon gesagt. Im nördlichen Teil gibt es Eisfüchse und Bären. Wölfe findest du allerhöchstens im Westen, aber schon gar nicht im östlichen Teil, der an unser Dorf grenzt. Was auch immer du gesehen hast, es waren keine Wölfe!“ Jetzt war Sjard belehrend. Es war ihr egal, sie hatte es verdient. „Aber sei es, wie es ist, du musst essen. Sonst brichst du mir hier gleich zusammen. Du bist ohnehin viel zu mager für eine Frau.“

      Da, er tat es schon wieder! Erneut verglich er sie mit anderen Frauen, oder zumindest mit solchen, die er für eine richtige Frau hielt. Dabei war Ingvild, ihre Mutter, auch keine rundliche Person, sondern schlank und ... na ja, gebeugt, aber früher war sie eine schlanke, hochgewachsene Frau. Warum sollte Kjellrun so viel anders als ihre Mutter sein? Vielleicht war ihr Vater auch schlank und groß gewesen, dann war es ganz natürlich, dass sie nicht so rundlich gebaut war, wie die Frauen aus Hjolmfort. Außerdem, wie hätte sie dick werden können bei der kargen Kost? Kräuter und eine Handvoll Fleisch machten keinen Menschen dick. Daran sollte Sjard mal denken! Immerhin hatte er Mutter und Vater, keine Schwester und zwei Brüder. Also viele Jäger und nur eine Person, die ausschließlich aß, statt zu jagen. Konnte er es nicht verstehen oder wollte er nicht begreifen?

      „Setz dich“, befahl er ruppig, nahm seine Tasche und holte ein halbes Fladenbrot heraus. Er brach es und gab ihr die Hälfte. Zögerlich griff sie danach. Jetzt hatte er wahrscheinlich nicht mehr genug für den Heimweg. Doch wenn sie in Ulvershom auf ihre Familie trafen, würde die ganz bestimmt Sjard aus Dank Brot und Fleisch mitgeben.

      Sjard holte einen kleinen Trinkschlauch hervor und reichte ihn ihr, dann setzten sich beide Rücken an Rücken.

      Zuerst nahm sie einen großen Schluck. Es tat so gut, die Nässe im Mund zu spüren und zu fühlen, wie sie anschließend den Hals herunterrann. Wieso nur hatte sie vorher nicht gemerkt, wie durstig sie war?

      „Danke“, sagte sie, drehte sich halb und reichte ihm den Schlauch.

      „Mmh“, brummelte er, griff nach dem Schlauch und sie hörte, wie er ebenfalls trank.

      Sie biss in das Brot und kaute den Brocken gut durch, ehe sie den nächsten abbiss. Wenn sie ein Stück Fleisch dazu hätte, wäre die kleine Mahlzeit perfekt, doch auch so war sie dankbar. Es war wirklich töricht gewesen, ohne Vorräte loszulaufen. Was hatte sie sich nur gedacht?

      Nichts, musste sie vor sich selbst zugeben, sie hatte nichts gedacht. Sie hatte nur an Thore und die unerwünschte Bindung gedacht. An seine Hände auf ihrem nackten Körper, seine feuchten Lippen in ihrem Gesicht und an all die ekligen Dinge, die er dann mit ihr anstellen würde. Sie wollte gar nicht so genau wissen, was das alles war. Wenn sie genauer darüber nachdachte, wollte sie das auch nicht mit Sjard oder irgendeinem anderen Mann machen müssen. Eigentlich gefiel ihr das Leben allein mit ihrer Mutter. Wenn sie nur in der Dämmerung jagen dürfte, um mehr Fleisch heimzubringen!

      Zwischen zwei Bissen kam ihr ein neuer Gedanke: „Warum sind wir schon so lang unterwegs? Ich dachte, bis Ulvershom ist es nur ein halber Tagesmarsch?“

      Sjard drehte sich mit dem Körper zu ihr. „Wer hat dir denn das erzählt?“

      „Niemand, ich dachte nur.“ Wieder kam sie sich dumm neben Sjard vor, der irgendwie alles richtig machte und besser wusste. Wie konnte sie nur so etwas dummes denken? Der Svartskog war schließlich ein großer Wald, ein sehr großer Wald.

      „Wenn du in den östlichen Wald eindringst, dann ist es ein halber Tagesmarsch, bis du das südliche Ende erreichst. Wenn du am Waldrand entlanggehst. Und wenn du dich nicht im Gestrüpp verfängst. Und wenn du ohne Pause läufst. Und wenn du ...“

      „Schon gut“, unterbrach Kjellrun seine Aufzählung. „Ich habe es verstanden. Selbst nach Suthurhom im Süden vom Svartskog braucht eine unbeholfene Frau wie ich mehr als einen Tag. Da brauche ich bis nach Ulvershom sicher zwei oder mehr Tage.“

      Zum ersten Mal, seit sie unterwegs waren, grinste Sjard breit und sah wieder aus wie ihr Freund und nicht wie ein belehrender Jäger. So dürfte er nach Kjellruns Meinung ruhig den gesamten Weg lächeln. Dann würde sie sicher auch bald das Gefühl verlieren, eine schlechte Jägerin zu sein, und viel weniger dumme Fehler machen.

      „Mit mir zusammen wirst du morgen in Ulvershom ankommen, wenn uns deine Wölfe nicht vorher auffressen“, feixte er und grinste noch breiter. „Wenn du dann fertig bist mit Brot knabbern, gehen wir weiter. Die Dämmerung setzt bald ein. Bis dahin brauchen wir einen guten Schlafplatz. Während du Wache hältst, werde ich uns etwas Fleisch besorgen. Das können wir braten, ein Teil für heute Abend, den anderen für morgen zum Frühstück. Einwände?“

      Sie wollte schon anfangen zu nörgeln, warum sie denn nicht mit jagen durfte, als ihr bewusst wurde, dass er die Frage nicht ernst gemeint hatte. Er sah sich als Jäger und Beschützer, sie war in seinen Augen die demütige Frau, die Ja zu sagen hatte. Um keinen Streit zu provozieren, seufzte sie und sagte: „Keine Einwände.“

      Er tätschelte ihr zufrieden die Schulter. „Gut, dann lass uns aufbrechen.“

      Was auch immer sie dachte, es war egal. Er hatte Essen, Trinken und sie vor den Wölfen gerettet, oder zumindest vor einem Alptraum, auch wenn der Alptraum zum Schluss ein Schöntraum gewesen war. Vielleicht würde sie heute Nacht wieder von den Wölfen träumen ... und von der schwarzen Gestalt mit dem wundersamen, betörenden Gesang.

      Kapitel 8

       EISJUNGFER

      Einen Augenblick verharrte ich in meinen Eiskristallen über den Köpfen einiger Krieger. Die Männer hatten sich bereits aufgeteilt und strebten in den Svartskog hinein, andere marschierten zu dem Dorf Ulvershom. Die Menschen dort würden einiges zu erklären haben. Aber das war mir gleichgültig. Einzig die Krieger, die in den Wald wollten, waren für mich wichtig. Denn sie konnten die Jungfrau finden.

      Ich ließ mich vom Wind tragen, flirrte über ihnen in einem sanften Klingen, schillernd und bezaubernd schön. Manchmal bedauerte ich, dass ich mich nicht selbst sehen konnte, wenn ich in dieser Kristallform über das Land flog. Es musste ein wundervoller Anblick sein!

      Die Männer unter mir beachteten mich gar nicht. Sie waren so auf Wölfe konzentriert, dass sie mein Klingen und Sirren nicht bemerkten. Ein wenig verärgerte mich das. Jeder dieser groben, dummen Menschen sollte mir Beachtung schenken, egal, in welcher Form ich mich gerade befand. Zumindest einen Blick nach oben hätten sie werfen müssen, um zu prüfen, was da über ihnen schwebte. Sollte ich sie für ihre Nachlässigkeit