Beinahe Mitternacht.
Schatten, die im Licht der spärlichen Beleuchtung dahinhuschten.
Ratten.
Vielleicht ...
Nur in den Büroräumen von EVENT HORIZON, der Event-Agentur von Frank Marwitz, brannte noch Licht. Ansonsten befand sich niemand mehr in dem kastenförmigen dreistöckigen Flachdachbau im Gewerbegebiet Mönchengladbach, in den sich ein paar aufstrebende Selbstständige eingemietet hatten, deren Unternehmen ihre beste Zeit noch vor sich hatten.
Marwitz saß an seinem Schreibtisch und fuhr gerade den Rechner herunter. Er hatte noch einmal den Veranstaltungskalender seiner Homepage überarbeitet. Nun war nichts mehr zu tun. Für diesen Abend hatte selbst ein so hyperdynamischer Jungunternehmer wie er, diese Rampensau des Niederrheins und Conferencier für alle Fälle, bekannt aus Funk, Fernsehen und lokalem Käseblatt, genug getan.
Der Flachbildschirm wurde dunkel. Marwitz stand auf. Sein Haar war gegelt, sah aber aus, als wäre es verschwitzt. Er war Mitte vierzig, fand aber, dass er wie Mitte dreißig aussah, und hatte ein Lebensgefühl, das er für das eines Fünfundzwanzigjährigen hielt.
Allerdings waren die allgewaltigen Unterhaltungschefs in den TV-Sendern in diesem Punkt anderer Meinung gewesen. Seine größten Erfolge war eine Nebenrolle in einer Vorabend-Soap und ein Moderatorenjob in einem Shopping-Sender gewesen. Aber der erste dieser beiden einzigen überregionalen Erfolge lag schon etwa zehn Jahre zurück, und der zweite hatte gerade sein unweigerliches Ende gefunden, weil der Shopping-Sender, für den er Trimmgeräte und Billig-Laptops angepriesen hatte, in Konkurs gegangen war.
So war Marwitz in gewisser Weise ein Opfer der allgemeinen Finanz- und Wirtschaftskrise geworden. Zumindest sagte er sich das, denn diese Version war leichter mit seinem Ego zu vereinbaren als die, dass seine Moderation möglicherweise einfach an der Zielgruppe vorbeigegangen war.
Genau das hatte man ihm bei einer Reihe von Castings gesagt, die er zwischenzeitlich hinter sich hatte.
Marwitz fragte sich nicht zum ersten Mal, wieso er das eigentlich mitmachte. Er moderierte Veranstaltungen mit mehreren tausend Gästen und half manchmal sogar als Stadionsprecher der Borussia aus – was nach dem Wiederaufstieg in die Bundesliga ja auch richtig Spaß machen konnte. Er brachte ganze Hallen zum Kochen und verwandelte halbtote Rentner in ekstatische, enthemmte Partygänger. Er machte manchmal selbst Butterfahrten und den Tanztee für Senioren zu einem unvergesslichen Bühnenereignis und lief zur Hochform auf, wenn bei der Abschlussfeier einer vierten Grundschulklasse zwar weder der Bär noch Eltern oder Lehrer, aber immerhin die Kinder tobten.
Aber für das Fernsehen schien er einfach nicht gut genug zu sein. Seine Karriere war in dieser Königsdisziplin des Showbiz schon am Ende gewesen, bevor sie richtig angefangen hatte.
Marwitz nahm ein Kaugummi aus der Tasche seines ausgebeulten Kordjacketts. Er hatte an diesem Tag seit dem spärlichen Frühstück, das aus einem angegessenen Schokoriegel von gestern bestanden hatte, noch nichts zu sich genommen. Es war einfach keine Zeit gewesen. Das Korschenbroicher Schützenfest stand zu Pfingsten vor der Tür, und da musste einiges organisiert werden, was gar nicht so leicht gewesen war. Vor allem war es schwierig gewesen, eine leistungsfähige PA-Anlage zu organisieren, die in der Lage war, ein Festzelt ausreichend zu beschallen.
Marwitz hatte den Job in Korschenbroich kurzfristig annehmen müssen, da ein Kollege ausgefallen war, und zu Pfingsten war so ziemlich jede funktionsfähige PA-Anlage im Land irgendwo im Einsatz. Ob nun beim Tanz in den Mai, einer Ü-30-Party oder beim Gemeindefest einer Pfarrgemeinde, alles was auch nur entfernt nach einem Lautsprecher aussah, wurde gebraucht, und Marwitz war einfach zu spät dran gewesen. Aber er hatte gute Kontakte und es schließlich doch noch auf die Reihe gekriegt.
Es fehlte nur noch eine Sache zu seinem Glück, und die raubte ihm den letzten Nerv.
Marwitz ging zur Fensterfront und drückte die Stirn gegen die Scheibe. Das gab zwar einen Schweißfleck, aber so konnte er hinaus in die Dunkelheit sehen, ohne nur sein eigenes Spiegelbild anzustarren, während er den Kaugummi weiterhin mit nervös mahlenden Kiefern bearbeitete.
Es ging um die Ü-30-Party in der Kaiser-Friedrich-Halle an der Hohenzollernstraße in zwei Tagen ...
Alles war perfekt organisiert gewesen. Eine Art überdimensionaler Kindergeburtstag für die Teenager der Achtziger, deren Musik durch den Tod von Michael Jackson eine unerwartete Renaissance erlebte. Ausgerechnet da war Marwitz das fest eingeplante Michael-Jackson-Double abgesprungen und hatte den Termin einfach gecancelled.
Angeblich, weil er eine Zerrung hatte.
„Opa-walk mit Krücke statt Moonwalk“, hatte er am Telefon gejammert. „Das will doch keiner sehen.“
Aber Marwitz hatte aus gut unterrichteten Quellen erfahren, dass diese Jackson-Doublette stattdessen ein Engagement in einer Disco in Moers angenommen hatte.
Für die doppelte Gage.
Der Tod eines Popstars konnte zwar die Party-Szene bisweilen gehörig anheizen, aber er verdarb leider sowohl die Preise als auch die Moral der Lookalikes. Es war immer dasselbe. Den Kerl zu verklagen half Marwitz nichts. In zwei Tagen musste ein Jackson-Double in der Kaiser-Friedrich-Halle auf der Bühne stehen, sonst war er erledigt. Der Act war groß angekündigt und überall plakatiert.
Und tatsächlich hatte der Event-Manager es geschafft, einen der wenigen Jackson-Doppelgänger zu finden, die gegenwärtig noch frei waren.
Und der hatte auch versprochen, noch an diesem Abend bei ihm vorbeizuschauen.
Aber er war bisher nicht aufgetaucht, und unter der Handynummer meldete sich nur die Mailbox.
Du schaffst es noch, dass ich wegen dir wieder anfange zu rauchen!, ging es Marwitz erbost durch den Kopf. Fünf Minuten gebe ich dir noch, und wehe du kannst dann den Moonwalk nicht so perfekt wie der King of Pop zu seinen besten Zeiten!
Ein Wagen fuhr auf den Parklatz vor dem Gebäude. Ein Mann stieg aus. Er war groß und schlank, mehr konnte Marwitz von ihm nicht erkennen, denn er war nur für einen kurzen Moment als Schattenriss zu sehen, dann verschluckte ihn die Dunkelheit.
Wenig später klingelte es an der Tür. Marwitz öffnete.
„Tag. Kann ich reinkommen?“
„Wenn Sie Michael Jackson sind.“
„Bin ich. Sie sind Marwitz, oder? Ich habe Sie in der Zeitung gesehen. ›Bunter Nachmittag für Senioren war ein voller Erfolg‹ oder so ähnlich. Stimmt‘s?“ Nichts, worauf ich stolz bin!, dachte Marwitz. „Kommen Sie rein!“, forderte er barsch. Die Tür fiel zu. Marwitz musterte das Jackson-Double von oben bis unten.
„Sie sehen Jacko überhaupt nicht ähnlich.“
„Mit Maske und Perücke schon. Sie werden mich nicht von ihm unterscheiden können.“
„Na ja ...“
„Krieg ich 'nen Vorschuss?“
„Jetzt?“
„Ich will fünfhundert Eier, gleich auf die Kralle, sonst trete ich nicht auf. Klar?“
„Nun mal langsam!“
„Scheiße, wenn ich gewusst hätte, dass Sie es doch nicht ernst meinen, wäre ich gar nicht erst hier rausgefahren.“
„Wo wohnen Sie denn?“
„Giesenkirchen. Ich habe da als Kellner im Los Morenos gearbeitet, aber die Gebrüder Moreno haben ihr Restaurant dichtgemacht, und nun stehe ich auf der Straße. Deshalb bin ich etwas knapp bei Kasse.“
„Wann sind Sie das letzte Mal aufgetreten?“, fragte Marwitz.
„Ist schon ein paar Jahre her. Nachdem dieser Kinderschänder-Prozess gegen Jacko angefangen hat, wollte plötzlich niemand mehr Jackson-Doubles. War 'ne ziemliche