„Klar, jemand versucht mich umzubringen, vor meinem Büro fliegt ein Wagen in die Luft, die Polizei hilft mir nicht, und der Typ, auf den ich meine letzte Hoffnung setze, nimmt mich in den Schwitzkasten und erwürgt mich fast. Aber ich kann das natürlich alles verstehen und sehe das ganz easy!“
Er schielte zu dem Feuerzeug, das noch am Boden lag.
Berringer hatte es eigentlich genau wie die Brille aufheben wollen, aber er konnte es einfach nicht. Er fühlt sich wie gelähmt.
Nein, du darfst nicht wieder abdriften!, versuchte er sich selbst zurechtzuweisen und mental an die Kandare zu nehmen. Die Vergangenheit ist Vergangenheit. Deine Frau und dein Kind sind tot, und du lebst jetzt!, versuchte er sich selbst auf dem Pfad der Realität zu halten – einem sehr schmalen Pfad. Nimm das Feuerzeug! Überwinde dich! Setz dich dem Trigger aus und erfahre, dass er dich nicht mehr beherrscht!
Aber es ging nicht. Wie zur Salzsäule erstarrt stand Berringer da.
Der Kerl mit der selbst ruinierten Gelfrisur wagte es ebenfalls nicht, sich zu rühren, geschweige denn, das Feuerzeug selbst aufzuheben, denn dazu hätte er dem in seinen Augen völlig unberechenbaren Berringer zu nahe kommen müssen.
Vanessa erfasste die Situation. Seufzend schob sie Berringer noch ein Stück weiter zurück, sodass sich der Abstand zwischen den beiden Männern noch vergrößerte, und bückte sich nach dem Feuerzeug.
Anschließend versuchte sie, ihr Lächeln charmant aussehen zu lassen, als sie das Feuerzeug seinem Eigentümer zurückgab.
„Danke“, murmelte der Mann. „Ich mach mich dann besser vom Acker. Irgendwie bin ich hier anscheinend fehl am Platz.“
„Bleiben Sie“, sagte Berringer. „Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was Sie mir gerade so beiläufig entgegengeschleudert haben, dann sind Sie hier sogar genau richtig.“
„Ach ja?“
„Es gibt nur wenige, die Ihnen helfen können. Viele werden das von sich behaupten, aber das sind Kaufhausdetektive und Leute, die nur Ihr Geld wollen, denen Ihre Sicherheit aber vollkommen gleich ist.“
„Ich hatte gerade nicht den Eindruck, dass sie Ihnen was bedeutet.“
„Fangen wir von vorn an. Ich heiße Berringer, und das ist meine Hilfskraft Vanessa Karrenbrock, die Ihnen die Rechnung schreiben wird, wenn wir für Sie tätig werden. Ich bin ehemaliger Polizeihauptkommissar und kenne mich aus. Außerdem habe ich noch einen guten Draht zu den Kollegen und komme so an Informationen heran, die nicht so einfach zugänglich sind.“
„Das war's also. Ein Zwei-Mann-Betrieb. Ich habe gehört, dass amerikanische Detekteien oft mehr als ein Dutzend Mitarbeiter haben, und selbst hier in Deutschland ...“
„Wir haben noch einen dritten Mann“, warf Vanessa ein - wobei sie ihrer Formulierung nach dann ebenfalls ein Mann sein musste, aber die Herausstellung ihrer weiblichen Identität schien ihr wohl im Moment von zweitrangiger Bedeutung.
„Herr Mark Lange ist ein hoch qualifizierter Mitarbeiter aus der Sicherheitsbranche, den wir glücklicherweise abwerben konnten. Tja, Sie sehen, gute Leute sind überall rar. Das ist bei Ihnen wahrscheinlich genauso. Ich ... äh, ich meine ... das schätze ich mal, obwohl ich noch nicht weiß, wer Sie sind und was Sie so machen.“
„Frank Marwitz, Event-Agentur EVENT HORIZON“, stellte er sich vor, und die Geschäftsmäßigkeit, mit der er dies tat, verriet, dass er diesen Halbsatz wahrscheinlich jeden Tag fünfzig Mal am Telefon aufsagte.
„Setzen wir uns“, schlug Berringer vor. „Kaffee ist leider alle, aber mich würde Ihr Problem interessieren.“
Marwitz schien noch nicht so recht entschieden zu haben, ob er dem Braten nun trauen sollte oder ob nicht doch sein ursprünglicher Entschluss, die Detektei fluchtartig wieder zu verlassen, die bessere Idee war.
Berringer ging zum Tisch und setzte sich auf einen der einfachen Stühle. Abgesehen von einer Computeranlage und allem Telekommunikationszubehör, was man in einer Detektei so brauchte, war die Einrichtung eher spärlich. Es gab in diesem etwas heruntergekommen wirkenden Büro im Düsseldorfer Stadtteil Bilk nur das Allernötigste – dafür aber einen großartigen Ausblick auf die uralte, langsam verblassende Blümchentapete, deren unmerkliche Verwandlung vom schrillen Hippie-Design zum zarten Aquarell wohl Jahrzehnte in Anspruch genommen hatte.
Das Telefon klingelte.
Berringer ging ran. Es war Mark Lange, der von Vanessa so hoch gepriesene, hoch qualifizierte dritte Mann der Detektei. In Wahrheit war er ein arbeitslos gewordener Angestellter des Sicherheitsunternehmens Delos, das vor ein paar Jahren in die Insolvenz gegangen war, weil einige leitende Mitarbeiter die Kundengelder von Banken und Versicherungen, die sie eigentlich von A nach B transportieren und dabei bewachen sollten, in die eigene Tasche gesteckt hatten. Das Ganze hatte nach dem berühmten Schneeballprinzip funktioniert, und folgerichtig war diese Blase irgendwann geplatzt. Die Verantwortlichen saßen nun im Knast und die Mitarbeiter auf der Straße, wobei dieses Schicksal alle gleichmäßig unbarmherzig getroffen hatte, die Ehrlichen wie die Halunken.
Mark war im Grunde ein armer Hund und keineswegs ein hochkarätiger Sicherheitsfachmann. Er hatte vor seinem Engagement bei Delos nur eine kurze Umschulung hinter sich gebracht, die aus ihm einen Wachmann hatte machen sollen.
Berringer wusste aus seiner Zeit bei der Düsseldorfer Polizei, wie erbärmlich der Ausbildungsstand dieser Sicherheitsfirmen häufig war. Das qualitativ Hochwertigste an diesen Security Guards, die auch zur Bewachung von Werksanlagen oder als Sicherheitsdienst in Bürohäusern eingesetzt wurden, war oft schon die respekteinflößende Fantasie-Uniform, mit deren martialischer Pseudoautorität sich die Obdachlosen aus den noblen Passagen herausmobben ließen.
„Brauchst du mich heute?“, fragte Mark. „Ich hab da einen lukrativen Schwarzarbeit-Job. Möbelschleppen bei einem Firmenumzug. Da könnt ich mir 'n paar Euro dazuverdienen, damit endlich mal mein Konto wieder im Plus ist.“
„In Ordnung“, sagte Berringer.
„Aber wenn bei dir irgendwas anliegt, dann hat das natürlich Vorrang.“
„Ich hab hier gerade einen Klienten. Du beurteilst die Lage am besten vor Ort und entscheidest dann nach Lage der Dinge“, sagte Berringer in einem Tonfall, der an Ernsthaftigkeit und Bedeutungsschwere kaum zu überbieten war.
„Irgendwie redest du heute komisch“, fand Mark.
„Ist schon in Ordnung.“
„Na ja, wie auch immer. Danke, dass du mir keine Knüppel zwischen die Beine wirfst und mich Geld verdienen lässt. Mein Kühlschrank und mein Bankkonto werden es dir danken.“
„Wiedersehen und alles Gute“, sagte Berringer und beendete das Gespräch. Dann fuhr er – an Vanessa gewandt, in Wahrheit aber mehr an Marwitz gerichtet – fort: „Auf Mark werden wir im Moment verzichten müssen. Die Observation zieht sich noch etwas hin. Aber er ist zuversichtlich, dass wir die Angelegenheit heute noch zum Abschluss bringen können.“
„Wunderbar!“, sagte Vanessa etwas zu übertrieben, als dass es wirklich überzeugend gewesen wäre. Doch Marwitz war dennoch beeindruckt. Vielleicht war auch seine Furcht vor dem, weswegen er die Detektei aufgesucht hatte, größer als die Angst davor, von Berringer noch einmal in den Würgegriff genommen zu werden.
Zögernd setzte auch er sich. „Ihr Laden scheint gut zu laufen. Offenbar behandeln Sie nicht alle Ihre Klienten so grob wie mich.“
„Ich kann mich gern noch dreimal entschuldigen, wenn Sie wollen“, erwiderte Berringer knurrig. Die Situation hatte ihn mindestens genauso mitgenommen wie das „Opfer“ seiner Attacke. „Aber es wird Ihnen wahrscheinlich kaum ein Trost sein, wenn ich Ihnen den Grund dafür erkläre, weshalb ich mich Ihnen gegenüber – wie soll ich sagen? – etwas merkwürdig benommen habe.“
„Das