„Alles klar“, sagte Kristin grinsend. „Ich weiß Bescheid.“
Galandwyn eine „Zuflucht“ zu nennen, war vermutlich die größte Untertreibung, mit der es Ben jemals zu tun gehabt hatte. Unter Zuflucht stellte er sich ein Provisorium vor, eine Art Auffanglager für Flüchtlinge, eine Behausung, die vielleicht Sicherheit bot, aber darüber hinaus ganz bestimmt keinen großen Komfort. Ben dachte an das Anwesen auf Madeira und an das ehemalige Ferienlager in Neuseeland. Nicht mal für diese beiden Orte wäre „Zuflucht“ vermutlich passend gewesen. Denn auch dort hatten sie es schon zu bequem dafür gehabt. Klar, dachte Ben. Alben tickten anders. Er wusste natürlich, dass sie bei allem, was sie taten, keine halben Sachen machten. Deshalb hatte er auch nicht ernsthaft erwartet, Galandwyn wäre ein Verhau aus Wellblech und Holzlatten gewesen. Vielleicht aber eine Burg, so wie Larinil die alte weiße Festung beschrieben hatte, die Geysbin und seine Gefolgsleute damals in den Alpen gebaut hatten. Aber das hier! Dieses Galandwyn war unglaublich, nicht von dieser Welt. Gigantisch, trutzig, wunderschön. Es war nicht eine Festung, sondern sieben. Alle gebaut auf spitz und schlank in den Himmel ragenden Bergen, die eng nebeneinanderlagen, nicht alle gleich hoch waren, aber in ihrer Form sehr ähnlich. Ben erinnerte sie an riesige, dicke Stalagmiten auf dem Boden einer Tropfsteinhöhle. Nur dass die hier Hunderte Meter hoch waren und sich über den flachen Hang eines noch gewaltigeren Berges verteilten.
Der Anblick Galandwyns hatte Ben jedenfalls restlos überwältigt, als sie vor etwa zwei Monaten zum ersten Mal an Bord einer Himmelsbarke hierher geflogen waren. Die sieben Festungen saßen auf den jeweiligen Bergen wie Kronen, durch deren Mitte der Gipfel hindurchragte. Keine sah dabei exakt so aus wie die andere. Der Grundaufbau war aber immer gleich: Mächtige Schildmauern schützten das Fundament der Bauwerke. Ihre sechs, manchmal auch acht scharfkantigen Ecken standen weit ab. Es sah fast so aus, als würden sie sich am jeweils höher gelegenen Ende vom Berg wegneigen, während sich der untere Mauerteil dagegen eng an ihn schmiegte. Es kam Ben so vor, als wären die Schildmauern so etwas wie eine gigantische eckige Schale. Und darin thronte dann die eigentliche Burg. Hohe, schlanke Rundtürme, dazwischen Gebäude, die nur von außen wie riesige Wehrmauern aussahen mit unzähligen Zinnen und Scharten. In Wahrheit waren sie aber viel mehr als das, wie Ben inzwischen wusste. Sie waren breit wie Wohnbocks. Und tatsächlich waren in ihnen unzählige Wohnungen, Lager- und Aufenthaltsräume untergebracht. Und dahinter war jede Festung wie ein kleines Dorf. Mit dicht aneinander stehenden Häusern, sogar kleinen Plätzen und Promenaden, die sich rund um den Gipfel wandten.
Trotz der vielen Geschütze auf den Wehrgängen: Das waren keine plumpen Bollwerke, die nur zur Verteidigung gebaut worden waren. Jede einzelne Festung kam Ben absolut stimmig vor, geradezu elegant. Es gab keine klobigen Vorbauten, keine schiefen Dächer, kein Fester saß irgendwo außerhalb einer durchdachten Anordnung. Mauern und Wände waren meist in einem makellosen Hellgrau verputzt. Aber warum sollte Ben so viel Perfektion auch ernsthaft wundern? Larinil hatte ihm erzählt, dass die Alben in der alten Zeit auf Vollkommenheit Wert gelegt hatten. Hier war das ganz offenbar nicht wirklich anders.
Noch mehr als bei den sechs übrigen Festungen hatten es die albischen Baumeister aber bei der Hauptfestung Galandwyns krachen lassen. Sie lag ziemlich genau in der Mitte der sieben Gipfel und war als Einzige schneeweiß. Und sie war noch weit größer als die Anderen - mit sechs statt vier bestimmt 80 Meter hohen Türmen an ihren Seiten. Und noch etwas war besonders: Die Festung hatte eine Art Plattform, die aussah, als wäre sie auf Höhe der Turmspitzen auf den Berggipfel gespießt worden. Sie hatte ein flaches Dach und war fast vollständig aus Glas. Supermodern war das Wort, das Ben beim ersten Anblick durch den Kopf gegangen war. An einem anderen Ort und unter anderen Umständen wäre er sich sicher gewesen, dass in der Plattform ein Panorama-Restaurant untergebracht war. Das war natürlich Unsinn. Die Alben nannten die Plattform Mindrai’Coosna, den Raum der Sonne. Und sie nutzten ihn auch nicht, um dort Mittag zu essen, sondern für Versammlungen, Besprechungen und Zeremonien.
In einer Hinsicht erfüllte Galandwyn allerdings dann doch das Kriterium einer Zuflucht: Es war sicher. So sicher, wie ein Ort überhaupt sein konnte. Denn die sieben Festungen waren nur aus der Luft zu erreichen. Keine Treppen, keine Aufzüge. Wohin auch? In den Tälern zwischen den Bergen waren weder Straßen noch Wege. Nur mit Himmelsbarken konnte man Galandwyn anfliegen und das war‘s. Zwischen den Festungen waren darüber hinaus schmale Hängebrücken gespannt - in absolut schwindelerregender Höhe. Bei einigen schätzte Ben die Länge auf einen Kilometer und mehr. Er wollte gar nicht daran denken, wie sehr die Dinger schwankten, wenn auch nur ein bisschen der Wind ging. Bisher hatte er immer eine Ausrede gefunden, wenn ihn jemand - namentlich Larinil - gefragt hatte, ob er mit ihr über eine der Brücken gehen wollte. Er ahnte aber, dass er sich nicht ewig davor würde drücken können.
Da, wo er jetzt gerade war, fiel es ihm allerdings schon schwer genug, mit seinen Schwindelgefühlen klarzukommen.
„Ha Larei jal’Iniai nar’niwa, Ben Hartzberg, Situ’wa jal’Rukkat.“
Geysbin lächelte ihm zu. Er stand vor einem der großen weißen Lehnstühle, die in der Mitte des Mindrai’Coosna, fast direkt über der Spitze des Gipfels, im Kreis gruppiert waren. Die sieben Stühle waren die einzigen Möbel und, wenn man sich das leicht milchige Glas, aus dem Boden, Seitenwände und Dach gemacht waren, nicht genauer ansah, konnte man fast glauben, sie würden frei in der Luft schweben. Ben hatte zwar keine übermäßige Höhenangst, aber der Mindrai’Coosna, der Raum der Sonne, stellte seinen Gleichgewichtssinn auch diesmal wieder gehörig auf die Probe. Denn direkt unter ihm fiel die Bergspitze steil ab. Es waren etwa 80 Meter bis zu den Dächern der weißen Festung. Durch Boden und Wände war außerdem der Blick frei auf das absolut atemberaubende Panorama der Kant’ras-Berge mit den anderen Festungen, dem gewaltigen Riesen, an dessen Hang die spitzen Berge lagen. Bens Gemütszustand pendelte noch immer zwischen Schwindel und Faszination, während er auf Geysbin zulief. Und es fiel ihm schwer, sich in diesem Zustand auf albische Begrüßungsformeln zu konzentrieren.
Wie hatte ihn Geysbin genannt? „Situ’wa jal’Rukkat“. „Bezwinger des Sturms“. Eine nette Floskel. Der Großmeister bezog sie ganz sicher darauf, dass Ben in Frankfurt sein Scherflein dazu beigetragen hatte, den Lichtsturm abzuwehren. Na gut. Er hatte ihn tatsächlich mit Kräften, die er noch immer nicht so ganz verstand, zum Stehen gebracht. Das hatte dabei geholfen, dass Geysbin, Gintwain und Larinil den Lichtsturm auslöschen konnten. „Bezwinger des Sturms“ war trotzdem maßlos übertrieben. Allerdings hatte Ben keinen Bedarf, hier und jetzt mit Geysbin darüber zu diskutieren. Rhetorisch war ihm der alte Mann sowieso haushoch überlegen, umso mehr auf Albisch, einer Sprache, die Ben gerade erst lernte.
„Ha fanaimel, tandrial jal’Galandwyn!“, antwortete er und war sich nicht sicher, ob „Sei willkommen!“ die passende Grußformel war, die einer verwenden sollte, der den Raum selbst eben erst betreten hatte. Und schon gar nicht sicher war sich Ben, ob es richtig war, Geysbin als „Tandrial“, als Großmeister Galandwyns zu bezeichnen. Er war das mal in der alten Festung in den Alpen gewesen. Hier aber war eigentlich Gintwain der Großmeister. Auch der war hier, saß in einem der Lehnstühle neben Geysbin. Beide hatten sie die grauen Gewänder ihres Amtes an, was Ben hoffen ließ, dass die Zuständigkeitsfrage in diesem Punkt wohl kein so großes Thema war. Immerhin beschwerte sich niemand bei Ben über seine Wortwahl.
„Hi Ben!“ Auch Natalie war schon im Mindrai’Coosna, was ihn ein wenig überraschte, weil sie sonst gewöhnlich zusammen zu solchen Terminen gingen. Natalie hatte sich allerdings vor gut einer Stunde aus ihrem gemeinsamen Zimmer verabschiedet, um, wie sie sagte, sich um die Neuen zu kümmern. Sie saß in dem Stuhl neben Gintwain und schenkte Ben einen Blick, der es gar nicht zuließ, sauer auf sie zu sein.
„Ich hatte im Wohntrakt noch eine kleine Besprechung. Sonst hätte ich dich zu unserem kleinen Meeting abgeholt. Sorry dafür.“
‚Meeting‘? So hatten sie ihre Lagebesprechungen in Neuseeland immer genannt. Damals allerdings war die Runde noch deutlich größer gewesen. Aber Maus und Viktoria waren in der Menschenwelt geblieben, Larinil hatte sich auf die Suche nach Andrar gemacht. Und der wiederum? Keine Ahnung. Hatte er sich tatsächlich wieder auf die Seite Sardrowains geschlagen?