„Du irrst dich, Natalie. Sirisil’tweyna ist mehr als das. Es war einst die zweite große Metropole Lysin’Gwendains. Ein Ort der Offenheit, ein Ort, in dem Schönheit und Vollkommenheit gedeihen konnten. Wem damals die silberne Stadt San’tweyna zu eng war, die Gedanken der Meister dort zu begrenzt erschienen, der zog nach Sirisil’tweyna. Selbst als vor so vielen Jahrhunderten der Lorrwain losbrach, als die Machtkämpfe in San’tweyna begonnen hatten, wähnten sich die Elvan jal’Iniai in der gläsernen Stadt sicher. Ihnen war das Geschehen in der Ferne so unsagbar fremd. Ähnlich wie damals auch ich, glaubten sie nicht an einen Krieg. Es entsprach nicht der vorherrschenden Vorstellung von Vollkommenheit, wenn sich Elvan jal’Iniai gegenseitig töteten und sich mit Macht über andere erheben wollten. Eine leichtfertige Annahme, die vielen von ihnen das Leben kosten sollte. Denn schon bald belagerten die Truppen der Adro’wiai Sirisil’tweyna, verlangten von den Einwohnern, sich zu unterwerfen. Für diese war das aber ein Gedanke, den sie nicht verstehen konnten. Über die Jahrhunderte hinweg waren sie zu einem Volk geworden, in dem man sich nur dann für eine begrenzte Zeit unterordnete, wenn es einen Nutzen für alle versprach. Verstand es etwa jemand, meisterlich ein Boot zu lenken, so folgten man dessen Anweisungen. Aber nur für die Dauer der Fahrt. Schon am folgenden Tag war es möglich, dass eben dieser Bootslenker zum einfachen Schüler in der Kunst des Bogenschießens wurde.
Aus diesem Grund schlugen die Elvan jal’Iniai der gläsernen Stadt den Belagerern eine Gesprächsrunde vor, in der das rechte Handeln im Angesicht der Mächte des Lichts erörtert werden sollte. Die Truppen antworteten mit Schwert und Feuer. Die Adro’wiai wollten nun nicht mehr nur eine Stadt erobern, sie wollten eine in ihren Augen überkommene Idee ausmerzen. Sirisil’tweyna, das Sinnbild dieser Idee, musste fallen, seine Einwohner sterben. Tausende verloren ihr Leben. Und so wurde auch uns, den Gegnern der Adro’wiai, die wir dem Geschehen bisher tatenlos zugesehen hatten, klar, dass ein Krieg unausweichlich geworden war.“
„Sie haben eine ganze Stadt ausradiert?“, hakte Natalie ungläubig nach.
„Viele der gläsernen Bauten Sirisil’tweynas wurden zerstört, die meisten ihrer Bewohner starben. Einige Hundert Überlebende flohen hierher in die Kant’ras-Berge, bauten die erste der sieben Festungen. Andere blieben in der Stadt und wählten ein Leben in den weitläufigen Stollen, tief unten in der Erde. Dort sind ihre Nachkommen noch heute. Es sind die, die sich Elvan jal’Tionuiai nennen. Kinder der Dunkelheit.“
„Dunkelalben“, murmelte Natalie beinahe andächtig. „Wie schaffen sie es, ohne Sonnenlicht zu überleben? Ich dachte, Alben können nicht ohne.“
„Das großes Geheimnis“, antwortete Gintwain. „In Stollen ist etwas, das hilft. Hat Elvan jal’Tionuiai aber verändert.“
„Verändert?“, hakte Ben nach. Er hatte von diesen Dunkelalben noch nie gehört. Noch ein Geheimnis in dieser fremden Welt. Es würde wohl nicht das letzte bleiben.
„Nun, ich selbst habe noch keinen Elvan jal’Tionuiai zu Gesicht bekommen“, sagte Geysbin. „Es heißt aber, ihr Haar sei von Geburt an weiß und ihre Augen silbern. Und auch ihr Wesen unterscheide sich von dem eines Elvan jal’Iniai. Sie werden gefürchtet als unstet, kämpferisch, unbedacht.“
„Und böse“, ergänzte Gintwain und ließ damit keinen Zweifel daran, dass die Dunkelalben nicht zu seinen Freunden gehörten. Wenn das jemand sagte, der einen Gorgoil zum Kumpel hatte, musste das wohl etwas heißen, vermutete Ben.
„Aber was will Sardrowain mit der gläsernen Stadt?“, fragte er. „Warum lässt er die Elvan jal’Tionuiai nicht einfach in Ruhe und kümmert sich um den Rest der Anderswelt? Man sollte meinen, er hätte Feinde genug.“
„Nun“, meinte Geysbin und rieb sich das Kinn. „Möglicherweise ist Sirisil’tweyna für ihn noch immer ein Symbol des alten Denkens. Vielleicht will er die Stadt, um seinem Volk und seinen Feinden zu zeigen, dass er und nur er der Herrscher dieser Welt sein kann. Vielleicht hat der Angriff aber auch strategische Gründe.“
Ben nickte. „Eine vorgelagerte Stadt, in der seine Schlachtbarken sicher sind und versorgt werden können. Außerdem macht er uns das Leben schwer, wenn er von der Stadt aus unsere Übergänge und Versorgungswege angreifen kann.“
„Dann denkt er aber sehr langfristig“, meinte Natalie. „Die Stadt ist, wie gesagt, ein Trümmerhaufen. Daraus etwas Nützliches zu machen, dauert Jahrzehnte.“
Dann hob sie abwehrend die Hände.
„Ich weiß, ich weiß. Für Alben sind das keine Zeiträume, die der Rede wert sind“
„Na ich denke doch schon, dass Sardrowain da anders tickt“, widersprach Ben. „Er gehört eher zur ungeduldigen Sorte, will Fakten schaffen, bevor wir es tun. Schon vergessen? Die eine Welt reicht ihm nicht. Er will auch die der Menschen haben. Deshalb muss er erst mal uns loshaben, damit er in New York oder Dubai ungestört Lichtstürme zünden kann.“
Geysbin nickte. „Ich stimme dir zu, Ben Hartzberg. Doch egal, welche Pläne Sardrowain hat. Die Frage, die wir uns stellen müssen ist, welchen Weg wir nun gehen werden.“
„Greifen Stellung vor Sirisil’tweyna an, vertreiben Truppen aus Westen. Adro’wiai noch nicht stark genug, um gegen Galandwyn zu ziehen“, schlug Gintwain vor und erntete ein zustimmendes Grunzen von Totzal, der offenbar auch ohne Übersetzung verstanden hatte, was sein albischer Freund wollte.
„Dies wäre ein naheliegender Schritt“, entgegnete Geysbin. „Mit Totzals Hilfe könnten unsere Krieger dort siegen.“
Er ließ eine kurze Pause. Dann fuhr er fort: „Doch würde uns das einen hohen Preis kosten. In einem offenen Kampf würden viele von uns vergehen. Einer Entscheidung aber über das Schicksal der beiden Welten kämen wir dadurch nicht näher.“
„Was ist mit den Dunkelalben?“, fragte Natalie. „Sollten wir uns nicht gegenseitig helfen? Wir haben immerhin den gleichen Feind.“
Gintwain schüttelte den Kopf. „Elvan jal’Tionuiai kennen nur Feinde, niemals Freunde.“ Er fügte etwas auf Albisch hinzu. Geysbin übersetzte: „Er sagt, dass viele Elvan jal’Iniai vergangen sind, weil sie der gläsernen Stadt nach der Dämmerung zu nahe gekommen waren. Die Elvan jal’Tionuiai hätten sie getötet und ihre Habseligkeiten geraubt. Es sei nicht möglich mit ihnen zu reden. Ihnen zu helfen, würde daran nichts ändern“
Ben seufzte. „So viel zum Thema ‚der Feind meines Feindes ist mein Freund‘. Welche Optionen haben wir dann? Abwarten, bis Sardrowain genügend Barken hat, um hier in Galandwyn aufzukreuzen?“
„Wir hier wären so stark wie nirgendwo“, antwortete Gintwain.
„Das sehe ich auch so“, sagte Geysbin. „Seine stärkste Waffe sind die Schlachtbarken. Er baut mehr davon und bildet neue Halvoyen aus - schneller, als ich das für möglich gehalten hätte. Die Barken sind ein Fundament seiner Macht. Sie wecken Ehrfurcht und Bewunderung. Sie sind sein verwundbarster Punkt. Dort müssen wir ihn treffen. Und wenn er wütend genug ist, wird er Galandwyn angreifen. Bald schon.“
Nach Gesprächsrunden wie dieser kam sich Natalie irgendwie machtlos vor. Zu Hause in der Menschenwelt war sie die Chefin der Elvan-Stiftung gewesen. Sie hatte sich um die Verwandelten kümmern können, hatte psychologische und juristische Betreuung organisiert, Unterkünfte, die ganze Logistik, zuletzt sogar ein paar Waffen. Sie hatte Mails geschrieben, telefoniert, war Formulare und Anträge durchgegangen, hatte mit Behördenvertretern diskutiert. Das war immer anstrengend und manchmal nervtötend gewesen. Aber jetzt aus der Distanz kam es ihr auch irgendwie sehr vertraut vor. Das war ihr Schlachtfeld gewesen, auf dem sie kämpfen konnte. Aber das hier - echte Schlachtfelder, Himmelsbarken, Dunkelalben, Strategien, Angriffspläne - das war so weit weg von ihren alten Leben, wie es nur sein konnte. Sie musste sich hier nicht mal mehr um die Verwandelten kümmern. Die meisten wurden nämlich in Rekordzeit integriert. Alben lernten Sprachen, als ginge es dabei um ein einstrophiges Kindergedicht. Und die Bewohner der Festungen Galandwyns hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die Neuen bei sich aufzunehmen. Und wenn Alben