Lichtsturm IV. Mark Lanvall. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Mark Lanvall
Издательство: Bookwire
Серия: Lichtsturm
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748596356
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- an vorderster Front sozusagen. Sie hatten keine Wahl. Sie mussten kämpfen. Maus und Viktoria konnten sie unmöglich einfach im Stich lassen. Das war undenkbar.

      Acht Wochen war es jetzt schon her, dass ihre Freunde mit ein paar Hundert Verwandelten in die Anderswelt verschwunden waren. Natalie allerdings war schon kurz darauf wieder in München aufgetaucht, hatte Maus angefunkt, ihm berichtet, dass in der Anderswelt alles so weit ganz gut laufen würde. Aber natürlich war sie nicht zum Plaudern gekommen. Sie stellte auch die eine Frage, die sie gar nicht hätte stellen müssen. Denn natürlich waren Viktoria und er bereit, weiter nach Verwandelten zu suchen, nach Alben, die vor der Verfolgung fliehen wollten - und verzweifelt genug waren, mit in die Anderswelt zu gehen.

      Maus war dabei natürlich klar, dass Zeit ein kritischer Faktor war. Sardrowain war glücklicherweise gerade im Nachteil. Er hatte mit van den Berg seinen besten Kontakt in die Welt der Menschen verloren und war deshalb im Moment wohl kaum in der Lage, weitere Verwandelte zu rekrutieren. Maus musste deshalb versuchen, so viele wie möglich vor ihm zu „erwischen“ - und zwar schnell. Was nicht so einfach war. Denn schließlich musste er sich jetzt nicht mehr nur vor potenziellen Sardrowain-Lakaien in Acht nehmen, sondern vor allem auch vor den Behörden. Die Hatz auf „Gefährder“, zu denen neuerdings alle zählten, deren Ohren spitz waren, hatte groteske Züge angenommen. Solche, die an Zeiten erinnerten, von denen Maus bis vor Kurzem gedacht hatte, dass zivilisierte Europäer sie überwunden hätten.

      Edwin mochte ein übler Kerl sein. Aber er war verdammt gut als Spürhund. Er holte Verwandelte aus den Löchern, in die sie sich verkrochen hatten. Wenn auch gelegentlich mit Methoden, die Maus zum Kotzen fand.

      „Was wollen Sie von uns? Was müssen wir für Sie tun?“ Die Stimme der Frau bebte, während sie das sagte. „Was auch immer es ist. Ihnen sollte klar sein, dass wir bei den Behörden nicht als Mutierte gemeldet sind. Das heißt, die Cops stecken uns schneller ins Gefängnis als wir ‚Wir haben nichts getan‘ sagen können. Aber ich schätze, das wissen Sie.“

      Die Sonnenbrille auf ihrer Nase war in Schieflage geraten, was unter dem grellgelben Turban grotesk, beinahe lustig aussah. Maus allerdings war nicht zum Lachen zumute.

      „Hat er das getan?“, fragte er. „Hat Edwin gesagt, er würde Sie verpfeifen, wenn Sie nicht mit ihm kämen?“

      Die beiden Frauen nickten. Die mit dem gelben Turban um Nuancen energischer als die andere, die sich sonst nur schweigend in ihren Sitz kauerte. Auch sie war mit einer Sonnenbrille maskiert. Und mit einem dunkelblau und grün gestreiften Wickeltuch um den Kopf herum, was auch nicht eben elegant wirkte.

      „Also sagen Sie uns, was wir tun sollen!“, sagte die Energischere mit dem gelben Turban. „Etwas, dass nur wir Mutierte tun können, vermute ich mal. Ist es illegal? Kein Problem. Wir stehen ohnehin schon abseits aller Gesetze. Ob wir das nun wollen oder nicht.“ Sie lächelte bitter. „Ich bin eigentlich Astrophysikerin, Silke Grundschullehrerin. Es sind aber wohl kaum unsere beruflichen Fähigkeiten, auf die Sie aus sind, oder?“

      „Ihr wollt wissen, was Ihr für uns tun könnt? Entspannt Euch erst mal!“ Viktoria. Sie war urplötzlich im Türrahmen erschienen, blickte die Neuankömmlinge mit ihren großen, wachen Augen durch die altmodische Hornbrille an, was irgendwie einnehmend wirkte. Jedenfalls kam es Maus so vor, was möglicherweise auch daran lag, dass er Viktoria seit Jahren hoffnungslos verfallen war. Denn „einnehmend“ war ein Attribut, dass außer ihm die wenigsten mit seiner Freundin in Verbindung brachten. Schließlich war sie nicht gerade für ihr diplomatisches Geschick berühmt. Eher für herbe Spitzen und Frotzeleien.

      Diesmal allerdings schien sie den richtigen Ton getroffen zu haben. Die Astrophysikerin jedenfalls nahm ihre Sonnenbrille ab und sah Viktoria neugierig an. Die Iris ihrer Augen war hellbraun, beinahe orangefarben. Selbst für albische Verhältnisse war das ungewöhnlich. Auf Maus wirkte die Verwandelte auf den ersten Blick wie eine Puppe, der man zwei Ovale aus Bernstein eingepflanzt hatte. Dabei hatte ihr Gesicht bei näherer Betrachtung nicht wirklich etwas von einer Puppe. Es war markant, mit kantigen Zügen und einer ausgeprägten Nase - nicht hässlich, aber eben auch nicht liebreizend. Es gehörte einer Frau, die unter normalen Umständen wohl genau wusste, was sie wollte. Aber die Umstände waren nicht normal, sondern meilenweit davon entfernt.

      „Wir haben euch nicht geholt, um euch auszunutzen“, sagte Viktoria. „Wir wollen euch helfen, haben ein paar Antworten für euch und geben euch nebenbei die Chance, aus dem Schlamassel hier zu verschwinden. Wenn ihr darauf Bock habt, natürlich nur.“

      „Ja“, bestätigte Maus. „Wobei wir nicht ernsthaft versprechen können, dass euch in allen Details gefällt, was wir anzubieten haben.“

      Die Astrophysikerin mit den hellbraunen Augen und dem grellgelben Turban sagte einen Moment lang gar nichts. Ihr Blick wanderte ein paarmal zwischen Viktoria und Maus hin und her. Allerdings schien sie sich tatsächlich ein wenig entspannt zu haben - anders als die immer noch vor sich hinbibbernde Frau namens Silke neben ihr.

      „Ich bin übrigens Kristin“, sagte sie dann. „Und ihr habt meine volle Aufmerksamkeit.“

      Kristin glaubte an die Gravitationsgesetze, an den Durchbruch der Quantenfeldtheorie, meinetwegen auch an dunkele Materie und die Krümmung von Raum und Zeit. Das, was sie dagegen in den letzten Stunden von Maus und Viktoria gehört hatte, war verglichen damit absurd. Nein, es wäre absurd gewesen, wenn nicht trotzdem so vieles dafür gesprochen hätte. Das Lichtvolk der Alben. Ein steinalter Verwandlungszauber. Ein mystischer Krieg, der noch immer andauerte. Die Anderswelt. Aber halt! An dieser Stelle hatte Kristin nun aber wirklich Bauchschmerzen. Denn was bitte sollte das sein? Rein wissenschaftlich betrachtet. Eine der zusätzlichen Dimensionen, von der die Superstring-Theorie ausgeht? Eine, die sich den Menschen bisher nur noch nicht erschlossen hatte, weil sie nicht wahrnehmbar war? Oder sogar ein waschechtes Paralleluniversum? Kristin kannte natürlich die „Viele-Welten-Interpretation“ der Quantenmechanik. Sie sagte aus, dass alle möglichen Vergangenheiten und Zukünfte ein real existierendes Universum darstellten. Die Star-Trek-Macher hatten sich aus dieser Theorie mehr als einmal bedient. Hatten die Alben ernsthaft den Zugang zu einer parallelen Welt entdeckt?

      Unmöglich! Das waren wilde Fantastereien, mit denen Kristins bodenständiger Geist noch nie etwas hatte anfangen können.

      Nein, es gab eine Erklärung für die Anderswelt, wie für alles andere auch. Vielleicht eine, die dem, was Kristin passiert war, sogar einen Sinn geben konnte.

      Vor weniger als zwei Jahren war sie noch ein normaler Mensch gewesen, hatte einen vernünftig bezahlten Job an der Technischen Universität, eine Mitgliedschaft im Fitness-Klub um die Ecke und Karl, von dem sie damals noch geglaubt hatte, sie würde ihn sehr bald heiraten. Karl war inzwischen Geschichte, ebenso wie alles andere in ihrem Leben. Jetzt hatte sie spitze Ohren, helle Augen, konnte rennen wie eine Gazelle und stand unter Terror-Generalverdacht. Das vorsichtige Misstrauen, mit dem die Normalos anfangs den Mutanten begegnet waren, hatte Kristin ja noch einigermaßen nachvollziehen können. Jetzt allerdings taten alle so, als hätte jedes Spitzohr höchstpersönlich die Bombe in Frankfurt gezündet - oder was auch immer das war, was die halbe Innenstadt in Schutt und Asche gelegt hatte. Dabei war Kristin seit 15 Jahren nicht mehr in Frankfurt gewesen. Sie interessierte sich für Umlaufbahnen, Raketenstarts, Schwarze Löcher und Neutronen-Sterne. Nicht für Politik und schon gar nicht für Weltverschwörungen. Im Übrigen auch nicht für Fabelwesen. Scheiße. Sie war eines. Eine Albin. Ein Lichtwesen mit angeblich magischen Kräften.

      Aber immerhin wusste sie das jetzt. Das war doch etwas, womit man arbeiten konnte. Es half Kristin. Bei Silke allerdings hatte auch das keinen Unterschied gemacht. Ihre Begleiterin war psychisch völlig am Ende. Auch nachdem Maus und Viktoria mit ihren Erläuterungen fertig waren über das Albendasein im Allgemeinen und die Reise in die Anderswelt im Speziellen, hatte das bei der stillen, zierlichen Frau wenig ausgelöst. Nur mit Mühe war sie dazu zu bewegen gewesen, ihr Tuch und ihre Sonnenbrille abzunehmen. Silke war vielleicht mal eine gute Lehrerin gewesen. Jetzt aber fehlte ihr die Sicherheit einer vertrauten Welt. Grübelnd spielte sie immer wieder an ihren dünnen, blonden Haaren herum, massierte die Wangen ihres beinahe kindlich wirkenden Gesichtes, und schien kaum noch zu verfolgen,