Larinil dagegen fragte sich, wie es wohl sein würde, den armseligen Kämpfern der Freilegion auf dem Feld gegenüberzustehen. Es wäre ehrlos, sie einfach niederzumachen. Sie überlegte, ob es möglich war, sie für Galandwyn zu gewinnen. Das konnte eigentlich nicht schwer sein, so wie sie hier und wohl auch in San’tweyna behandelt wurden. Aber nein. Das würde sie vermutlich nicht alleine schaffen. Sie bräuchte Verbündete, Gelegenheit, in die Herzen dieser Elvan jal’Iniai vorzudringen. Außerdem war ihr Ziel ein anderes. Jemand anderes.
Larinil wartete. Ihr war nicht klar, worauf genau. Auf etwas, das ihr den Weg zu denen öffnen würde, die ihr mehr sagen konnten als Silior. Auf eine Gelegenheit, die sich ihr schon sehr bald bieten sollte.
„Wir werden Besuch bekommen“, sagte Silior eines Abends. Larinil heilte gerade eine schwere Wunde am Ellenbogen, die sich der junge Kerl beim Sturz von einem Baumstamm zugezogen hatte.
„Offiziere werden kommen, um sich von der Schlagkraft der Freilegion zu überzeugen. Es heißt, sie wollen uns bald in den Westen zur gläsernen Stadt führen.“
Er sah sie prüfend an. Er wollte vermutlich wissen, ob diese Nachricht irgendetwas bei ihr auslöste. Irgendetwas, das seine Neugier befeuerte. Sicherlich gab es längst Gerede über die merkwürdige Heilerin. Darüber, dass sie anders war als die anderen Anwärter.
„Warum sollte mich das interessieren?“, sagte Larinil, zweifelte aber gleichzeitig daran, dass ihr Silior das abkaufte.
„Weil ich nicht glaube, dass Ihr hierhergekommen seid, um mit mir und den zerlumpten Kriegern dieses Zeltes Seite an Seite in den Kampf zu ziehen.“
Larinil fluchte innerlich. Wenn schon Silior sie durchschaut hatte, was dachten dann erst die anderen?
„Ach nein? Und warum, glaubst du, bin ich dann hier? Um auf dich aufzupassen?“
Er lachte.
„Sicherlich nicht. Ich denke, dass Ihr nach Höherem strebt.“
„Ruhm und Ehre. Ein Lob der Adro’wiai. Ist es nicht das, warum auch du hier bist?“
Silior schüttelte den Kopf.
„Ich ganz sicher. Aber nicht Ihr. Glaubt mir, ich kenne Euresgleichen. Es ist die Macht, die Euch lockt und der Reichtum. Ihr seid hier, weil Ihr mit Eurer Schönheit und Eurem Gehabe einen guten Fang machen wollt.“
Larinil zwang sich, nicht laut loszulachen. Das war es also, was er dachte. Dass sie einen hohen Offizier herumkriegen wollte, um in bessere Kreise aufzusteigen. Das passte in Siliors beschränkte Sicht auf die Welt. Motive und Ziele, die sehr viel anders waren als das, konnte er sich offenbar gar nicht vorstellen. Wie armselig! Sie wollte protestieren, ihn beschimpfen, überlegte es sich dann aber anders. Ihr Instinkt sagte ihr, dass es gut war, ihn in dem Glauben zu lassen.
„Und wenn es so wäre?“
Silior grinste triumphierend.
„Dann kann ich Euch helfen. Einer der Offiziere ist mein Vetter. Er bekleidet zwar nur den Rang eines Kohortenkommandanten, aber das wird sich im Laufe dieses Krieges sicherlich schnell ändern. Ich werde ihm schreiben und ihn bitten, Euch nach der Heerschau zu empfangen. Und nach der Hinrichtung Rangnuwins, um die ich ihn ebenfalls gebeten habe.“
Larinil nickte. Vielleicht war das die Gelegenheit, auf die sie gewartet hatte. Ein Kohortenkommandant - auch wenn sie von diesem Rang noch nie gehört hatte - wusste sicher mehr als dieser dumme Junge.
„Und warum tust du das für mich?“, fragte sie so demütig wie möglich.
„Sagen wir, ich will mich erkenntlich zeigen für Eure heilenden Künste. Außerdem ist es hilfreich, wenn mein Vetter in meiner Schuld steht. Ebenso wie Ihr.“
„Wir können es auch lassen und ich erklär es dir einfach nur“, sagte Kristin und sah sie besorgt an. „War vielleicht eine blöde Idee.“
„Quatsch“, antwortete Natalie und rieb sich den Hals. Dieses Druckgefühl wollte einfach nicht verschwinden. Es hatte vor ein paar Tagen angefangen. Eine leichte Erkältung, war ihre erste Vermutung gewesen. Kein Wunder bei den Temperaturen hier in der Festung. Ben war natürlich so lieb, sie mit einem Zauber zu wärmen, wann immer das ging. Allerdings hielt der kaum länger als zwei Stunden an und die Kälte kehrte zurück. Dieses Hin und Her machte ihr zu schaffen. Trotzdem: Handelsübliche Halsschmerzen waren das nicht. Sie würde wohl nicht darum herumkommen, Geysbin zu fragen. Er war ein mindestens so guter Heiler wie Larinil. Was auch immer sie sich da eingefangen hatte, er konnte das kurieren.
Jetzt aber musste sie wohl erst einmal die Zähne zusammenbeißen. „Komm!“, hatte Kristin vor gut einer halben Stunde mit glänzenden Augen gesagt. „Ich zeig es dir.“
Sie war mit ihr gegangen, mitten in der Nacht. Klar, dass es um das Geheimnis der Anderswelt ging. Und klar, dass Natalie sehen wollte, was Kristin entdeckt hatte. Jetzt waren sie im ebenso leeren wie dunklen Mindrai’Coosna und steuerten auf eine der wenigen Fensteröffnungen zu, von denen aus sie auf das gläserne Dach steigen konnten. Nirgendwo sonst hätte man einen besseren Blick auf die Sterne, hatte Kristin gesagt. Geysbin selbst habe es ihr erlaubt.
Kristin öffnete den Riegel und klappte das Fenster nach innen auf. Sofort strömte ihr eisige Luft entgegen. Natalie hatte zwar wieder eine der knallroten Antarktis-Jacken an, die Maus ihr organisiert hatte. Trotzdem fing sie sofort an, zu bibbern.
„Entschuldige!“, murmelte Kristin und legte ihre Hand an Natalies Wange. Eine angenehme Wärme floss in ihren Körper und breitete sich aus. Auch die Schmerzen im Hals ließen augenblicklich etwas nach.
„Viele Zaubereien hab ich noch nicht drauf“, grinste Kristin. „Den Trick hab ich mir aber gleich am Anfang zeigen lassen. Macht Laune, wenn man so verfroren ist, wie ich es als Mensch mal war.“
„Hm“, brummte Natalie dankbar. Und wieder einmal wurde sie darauf gestoßen, dass in der Menschenwelt vielleicht die Spitzohren Außenseiter sein mochten, hier allerdings war sie es. Bis vor Kurzem hatte sie nie wirklich darüber nachgedacht, wie es wäre, wenn auch sie sich verwandelt hätte. Einfacher, lautete die Antwort mittlerweile. Denn Fakt war nun mal: Sie konnte mit den Alben nicht mithalten. Sie konnte mit Ben nicht mithalten. Und sie würde alt werden, während er erst in ein paar Hundert Jahren mit den ersten Falten rechnen musste. Sie liebte Ben mehr als sie jemals jemanden geliebt hatte. Aber sie wusste auch, dass ihre Beziehung nicht für die Ewigkeit gemacht war. Das war nicht möglich. Irgendwann würde Natalie in ihre Welt zurückkehren müssen, weil es zu viel gab, was zwischen ihnen lag. Und dort würde sie alt werden. Alleine.
„Scheint vielleicht doch nicht so gut zu funktionieren, mein Hokuspokus“, sagte Kristin. „Du siehst blass aus. Und du hast etwas Pipi in den Augen. Schmerzen?“
„Alles gut“, log Natalie. „Und jetzt zeig mir schon, was du herausgefunden hast. Ich bin nur ein Mensch und freu mich, wenn ich wenigsten ein paar Stunden Schlaf in der Nacht abbekomme.“
Kristin kletterte aus dem Fenster auf einen schmalen ebenfalls gläsernen Steg, der keinen halben Meter breit war und ohne irgendeine Brüstung oder ein Geländer auskam. Natalie folgte ihr und sofort war ihr schwummrig. Mit ihrer Gesundheit hatte das diesmal allerdings nichts zu tun. Eher damit, dass sich unter ihr gerade das bodenlose Nichts aufgetan hatte. Um dort wirklich irgendetwas zu erkennen, war es zwar zu finster. Aber Natalie wusste, dass sie sehr lange fallen würde, wenn sie jetzt abrutschen würde. Sie klammerte sich mit der einen Hand fest an den Fensterrahmen. Ihr Blick suchte in der endlosen Düsternis nach etwas Vertrautem, nach etwas, das ihr das Gefühl von Sicherheit geben konnte. Da waren die Lichter von drei der anderen Festungen. Bei zwei der Bauwerke erinnerten sie Natalie an eine zusammengeknüllte Weihnachtslichterkette, die man angeknipst und irgendwo im dunklen Garten hatte liegen lassen. Die dritte Festung lag deutlich näher. Natalie