Gesprengter Horizont. Matthias Nelke. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Matthias Nelke
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783752916461
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rechten Oberarm, das M-11 in Sanskrit unter ihrer rechten Brust, der Südamerika-Umriss, der sich von der rechten Schulter bis zum Po erstreckte.

      »Und Sie sind die bürgende Partei?« Martha schaffte es einfach nicht sie anzusehen. »Sie haben Ihre Papiere dabei?«

      »Ja genau, die gute Samariterin«, antwortete Ybarra.

      Martha glaubte zu hören, wie die Samariterin die Stuhllehnen mit den Händen zu erwürgen versuchte. Als mehrere Sekunden nichts geschah, sah Martha sie doch an. Die Augen der Frau bohrten Löcher in die Schreibtischplatte.

      »Señora?«, fragte Martha, um Souveränität bemüht. »Wir müssen wissen, wer Sie sind, und wo wir Sie finden können. Falls wir das müssen.«

      So wie die Unruhe zurückkam, musste Martha wieder an den Turm denken. Mit einem Mal kam ihr die Situation furchtbar eigen­artig vor: Dieser heruntergekommene Irgendwer im schwarzen An­zug und die Frau im Freizeit-Shirt, die aussah, als würde sie jeden Augenblick explodieren. War das hier die Katastrophe, der Turm? Die Plastikmaske fiel Martha ein. Doch was, wenn sie alles abbrach und erst dadurch alles auslöste? Die Karten und die Stühle logen nicht. Auch das war Synchronizität.

      Die Frau mit dem strengen Zopf sog kontrolliert die Luft ein und zog dann mit einer Bewegung das Portemonnaie aus der Tasche, die deutlich das Ergebnis sorgfältiger Überlegung war. Den Ausweis brauchte sie darin nicht zu suchen. Sie reichte ihn so widerstrebend herüber, als wäre es eine ihrer Nieren.

      »Natalie Vela«, las Martha. »Aus Eibar. Kennen Sie beide sich aus der Heimat, ja?« Ybarra war Baske, unter Geburts- und Wohnort lis­tete sein Pass Bilbao.

      Das erste Wort, das Natalie Vela sprach, jagte Martha einen Schauer über den Rücken: »Internet.«

      »Schön, schön.« Sie studierte Velas Ausweis, doch fand darin we­der linguistische Hinweise auf einen Turm noch eine Königin, noch Schwerter. Keine geborene Torres, Rex oder Espada. Auch das wäre Synchronizität. Sie gab den Ausweis zurück.

      »Gut«, schloss sie. »Señora Vela, ich muss Sie darüber aufklären, dass wir ihr Konto ohne ihr Einverständnis belasten können, sollte Señor Ybarra Zinszahlungen auch nach wiederholten Mahnungen schuldig bleiben. Nur dass ich bei diesen speziellen Konditionen mit »Konto« und mit »belasten« keine Transaktion meine. Können wir Señor Ybarras nicht habhaft werden, natürlich. Sie haben Ihre Rollen verstanden?«

      »Ich bin das Pfand.« Sie betonte das Wort wie eine Frau, die eine fremde Sprache lernte und seine Bedeutung zum ersten Mal begriff.

      »Señor Ybarra?«

      »Klar und deutlich.«

      »Sollten Sie… zahlungsunfähig oder insolvent werden, werden wir uns selbstverständlich auch an Señora Vela wenden.«

      Ybarra lächelte. »Selbstverständlich.«

      Es gab keinen Grund, es länger hinauszuzögern. Die Karten hat­ten Ybarra ebenso jeden Zweifels enthoben wie seine Sitzplatzwahl. Die Gerechtigkeit auf der 3, dem Was-spricht-dafür-Feld, war nicht schwer zu deuten.

      »Sie können gehen.«

      Die beiden standen auf. Vela schien die Filiale nicht schnell ge­nug verlassen zu können, nur Ybarra drehte sich noch im Kreis.

      »Das—«

      »Sie glauben doch nicht… ich bin Bankangestellte.« Sie ließ ihn kurz zappeln. Es hob ihre Stimmung nicht. »Auf dem Platz vor der Filiale. Setzen Sie sich auf die grüne Kuh, jemand wird Sie finden.«

      Im Gehen heftete Martha ihren skeptischen Blick auf seinen Rücken.

      Das keltische Kreuz war ein komplexes Muster, Karten zu legen, doch simpel zu deuten. Es gab zehn Felder, die alle eine eigene Be­deutung trugen und nach der Reihe aufgedeckt wurden. In Kombi­nation mit den auf ihnen platzierten Karten ergaben sich Deutungs­möglichkeiten für alle Aspekte eines vielschichtigen Ereignisses — Vergangenheit, Gegenwart, eine direkte, bewusste und unbewusste Beziehung zu dieser Gegenwart, Zukunft, die Position des Kartenle­gers selbst, die Position der Umwelt, Erwartung und Ergebnis. Mar­tha hatte am Morgen den Narren im Zentrum aufgedeckt: Sorglosig­keit in der Gegenwart. Das warf bereits Schatten voraus. Auf den umliegenden Feldern nur unbedeutendes Zeug — und dann die 6, dann der Turm in der Zukunft. Wenn einem der Turm aus der Zu­kunft drohte, deckte man weitere zehn Karten auf, fand Martha, und hatte eine zweite Karte an jedes Feld gelegt. Dann eine dritte. Eine vierte Runde hatte sie nicht gewagt. Schon jetzt saß der König der Schwerter im obersten Turmzimmer. Wie am 08. März 2004, drei Tage vor dem bis dato größten Terroranschlag auf spanischem Boden.

      9. Tango

      [Vallecas, 18:17]. Sowie die Wohnungstür sich hinter ihnen schloss, klingelte das Mobiltelefon in Jacobs Hosentasche.

      »Kannst die da rüberstellen«, sagte Victoria. »An die Heizung.«

      Sie verschwand in einem der Zimmer. Jacob trug die Kamera an dem Sofa vorbei und legte sie samt Mikrofon und den drei Kopfhö­rern neben die Kabelrolle und die Umhängetasche, die Victoria dort bereits abgelegt hatte. Dann sah er sich in der Wohnung um.

      Eigentlich war es nur ein Wohnzimmer. Abgesessene Couch vor einem Fernsehgerät aus dem letzten Jahrtausend. Allen Tür- und Fensterrahmen, die er sehen konnte, blätterte der Lack ab. Regale mit verstaubten Büchern und Andenken pferchten die übrige Nutz­fläche zusätzlich zusammen. Dem Sauerstoffgehalt nach zu Urteilen befanden sie sich in einem Gewächshaus, obwohl Jacob keine Zim­merpflanzen sah. Zudem musste die Klimaanlage ausgefallen sein. Während Victoria hinter einer der Türen stöberte, trat Jacob zielstre­big durch eine andere. Küche. Der Geruch frischverzehrter Teigwa­ren fuhr durch seinen Bauch und erinnerte ihn daran, dass er drin­gend etwas essen musste.

      Wieder klingelte sein Handy. Drei Nachrichten von Moritz: Fünf­zehn Minuten — mit drei Ausrufezeichen. In der zweiten sagte ihm sein Bruder, dass Henrik ihm gerade geschrieben hätte, wo sie denn blieben, und dass Moritz es satthabe, Jacob zu decken. Er habe ge­antwortet, sie seien gerade beim Friseur, Jacob solle also nicht ein­fallen, ohne Bürstenschnitt zurückzukommen. Bei der dritten muss­te Jacob schmunzeln. Hast du schon deinen Blutzucker gecheckt? Manchmal glaubte Jacob, er und sein Bruder bestünden aus einem Körper. Es blieb eines jener Dinge, die er nicht erklären konnte.

      Victoria füllte den Raum, als sie zurückkam. Es hatte nichts mit ihren nimmersatten Blicken zu tun, die die Einrichtung beherrsch­ten und ihn lockten, ohne ihn hineinzulassen, und auch nicht mit der Art, mit der sie den Weg ins Wohnzimmer verschloss und die Küche abriegelte, ohne den Türrahmen auch nur zur Hälfte auszu­füllen. Aura war kein körperliches Phänomen. Sie füllte den Raum zwischen ihnen mit den Unterhaltungen, die sie noch nicht geführt hatten. Sofort lag Sex in der Luft.

      Victoria hatte sich mit einem Rasiergerät bewaffnet. Jacob dachte nicht daran, wem er gehören könnte.

      »Bereit?«, fragte sie.

      »Kannst du gut mit Werkzeugen?«

      »Vielleicht.«

      »Ich glaube, ich nehme vorsichtshalber was zu trinken.«

      »Ich trinke nicht. Niemals.«

      »Mhm.«

      »Du glaubst, ich lüge.«

      »Niemals.« Pause. »Ich nehme einen Saft.«

      »Saft?«

      »Fruchtsaft.« Er lüftete sein Tanktop und legte die Pumpe frei. Victoria sah nicht hin. »Diabetes. Typ 1.«

      »Wirklich beeindruckende Kriegsverletzung.«

      »Wirklich schäbige Bude«, schoss Jacob zurück. »Deine?«

      »Ja.«

      »Finanziert mit deinem Gehalt als Reporterin? Du lügst.«

      »Wie oft hast du schon so ne Wette mit deinem Bruder verloren?«