Kunz nickt, dann schaut er zu dem neben ihr sitzenden Alexander Stenzel. „Nach der Besichtigung der Wohnung habe ich mich bei den Nachbarn umgehört. Ähnliches Bild: Er sei ein netter Mann, höflich, kümmere sich um seine Aufgaben im Haus, Probleme habe es keine gegeben. Es sei hin und wieder laute Musik zu hören gewesen, aber kein Grund zur Beschwerde, das komme in einem Mehrfamilienhaus vor. So äußerte sich unter anderem eine Mutter von zwei Kleinkindern aus dem Erdgeschoss, über deren Lärm er sich seinerseits auch nie beschwert habe. In den letzten Tagen sei er nicht zu Hause gewesen. Wo er war, weiß keiner. Alles Weitere war unterhaltsam, wie der Nachbar, der sich mit mir über den Durchgangsverkehr auf der Straße unterhalten wollte, aber wertlos.“
Weiter geht es mit Manfred Schneider, der Alexander Stenzel gegenüber sitzt. Der rückt seine Brille zurecht und wirkt wie immer leicht verkrampft. Er selbst nennt es konzentriert, wenn man ihn auf seine unentspannte Körperhaltung anspricht. Julia hat den Eindruck, seine Schultern ziehen sich noch höher, bis auf Höhe seiner Ohren, und lassen seinen Hals verschwinden. Als einziger in der Runde hat er ein Tablet vor sich liegen.
„Die Liste der angenommenen Anrufe, die auf dem Smartphone gelöscht waren, habe ich beim Netzbetreiber abgefragt. Aus den letzten fünf Tagen gibt es keinen Telefonverkehr zu verzeichnen. In der Zeit davor waren es überwiegend Kollegen aus seinem Betrieb sowie ein Online-Shop. Verwandte oder Freunde waren nicht dabei, diesbezüglich erläutert gleich Raja mehr. Die kriminaltechnische Untersuchung hat mir Zugang zu seinem Computer verschafft. Viele Daten und Dateien. Bei seinem Beruf und Hobby nicht überraschend. Übrigens alles schön aufgeräumt. Ergebnis: Verbotenes oder Fragwürdiges habe ich nicht entdeckt. Dies schließt nicht aus, dass es etwas gibt. Mit seinen Kenntnissen wusste er bestimmt, wie man etwas ablegt, was nicht gefunden werden soll. Aber dafür gibt es derzeit keine konkreten Anhaltspunkte.“
Nun ist Raja Becker, mit der Julia das Büro teilt, an der Reihe, die neben Manfred Schneider sitzt. Mit Ende 20 ist sie die Jüngste im Team. Sie hat die Angewohnheit, immer mit schickem, heute dunkelblauem Hosenanzug, eleganter, heute weißer Seidenbluse sowie Pumps zum Dienst zu erscheinen. Auf ihre Schultern fällt ihr dunkelbraunes, lockiges Haar. Alles wirkt authentisch und trotz des förmlichen Outfits wesentlich entspannter als bei Manfred Schneider.
„Kevin Schulte scheint keine Familie zu haben. Eine Frau oder Kinder hat er nicht. Eltern sind verstorben, sie Deutsche, er Brite, die nicht verheiratet waren. Geschwister sind ebenfalls nicht vorhanden. Wie es mit Onkeln und Tanten aussieht, weiß ich noch nicht. Es ergeben sich keine Hinweise auf Kontakte, wie Manfred bereits beschrieben hat.“
Werner Kunz lehnt sich in seinem Stuhl zurück. „Ich fasse zusammen: Entscheidendes liegt uns leider nicht vor. Die bisherigen Untersuchungen haben keine Besonderheiten ergeben. Im Grunde haben wir keine Ahnung, was sich in der Wohnung von Kevin Schulte gestern abgespielt hat. Dieser ist polizeilich bisher nicht in Erscheinung getreten. Soweit ich das sehe, nicht einmal mit einer Geschwindigkeitsüberschreitung. Laut aktuellem Ergebnis der pathologischen Untersuchung ist von einer Vergiftung mittels oraler Einnahme auszugehen, also einer Kapsel oder Ähnlichem. Weitere Verletzungsspuren sind – wie nach dem ersten äußeren Anschein nach – nicht gefunden worden. Es ist anzunehmen, dass nicht mehr und nicht weniger als die Vergiftung die Todesursache ist. Eure Vorschläge zum Ablauf des Geschehens?“
Alexander Stenzel meldet sich zu Wort. „Bezüglich der Todesursache gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man hat ihn gezwungen, die Kapsel zu nehmen. Das macht wenig Sinn, denn das wäre eine umständliche Methode, jemanden umzubringen. Und ein Selbstmord lässt sich auf die vorgefundene Weise nicht vortäuschen. Es könnte aber ein echter Selbstmord gewesen sein. Die andere Möglichkeit ist nämlich, dass er die Kapsel bereits im Mund hatte. Das hieße, er müsste konkret erwartet und in Erwägung gezogen haben, dass er überfallen wird. Und dass er sich nur durch einen Selbstmord zum Beispiel einer möglichen Folter entziehen kann. Dies wiederum setzt voraus, dass er Informationen hatte, die er nicht preisgeben wollte und die für andere immens wichtig zu sein scheinen. Er hatte es nicht in Erwägung gezogen, die Polizei hinzuzuziehen. Also könnten es Informationen sein, von denen wir nichts wissen sollen.“
Strunz beugt sich vor. „Unser Kevin Schulte hatte Urlaub. Keiner weiß, was er in dieser Zeit unternommen hat. Anscheinend war er unterwegs. Nun ist etwas Sonderbares passiert. Über unsere zentrale Poststelle ist gestern Abend um exakt 20:00 Uhr eine E-Mail hereingekommen, die von ihm abgesendet wurde. Ihr habt richtig gehört: gestern Abend. Ich habe sie kurz überflogen. Lest Euch das bitte durch.“
Strunz verteilt an alle seine vier Kolleginnen und Kollegen jeweils einen Ausdruck der E-Mail.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sie erhalten diese automatisch versendete E-Mail, weil ich seit mindestens 12 Stunden nicht mehr im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte oder auf andere Weise nicht mehr handlungsfähig bin. Vielleicht ist es ein Unfall. Vielleicht etwas Anderes. Zuvor habe ich einen wertvollen Schatz versteckt. Da ich ihn nicht mehr schützen kann, wende ich mich an Sie.
Ich kann ihn zum jetzigen Zeitpunkt nicht genauer benennen. Falls ich in nächster Zeit meine Handlungsfähigkeit zurückerlange, möchte ich Sie davon abhalten, an meinen Schatz zu kommen. Der Erklärungsbedarf für diese E-Mail wird dann ein anderes Problem sein.
Schritt für Schritt bringe ich Sie dem Schatz näher – und der Lösung für meinen derzeitigen Zustand.
Der erste Schritt geht in die Alpen, nach Oberstdorf. Meine nächste, automatisch generierte E-Mail sende ich vom jetzigen Zeitpunkt an gerechnet nach 36 Stunden, also morgens um 8 Uhr.
Es macht Sinn, wenn Sie jemanden dorthin schicken, der in der Lage ist, sich in den Bergen zu bewegen, möglichst über mehr als einen Tag. Haben Sie Verständnis, dass ich Ihnen mit dieser Mail nicht mehr mitteile. Im Hinblick darauf, was Sie ansonsten von mir wissen, schätzen Sie die Notwendigkeit sicherlich richtig ein. Ich hoffe, dass ich im Laufe der Zeit Ihr Vertrauen gewinnen kann. Eine direkte Information aller Details erscheint mir zu riskant.
Kevin Schulte
Strunz schaut in die Runde und wartet, bis er den Eindruck hat, dass alle den Text gelesen haben. „Was meint Ihr?“
Manfred Schneider meldet sich mit seiner sonoren Stimme als erstes zu Wort. „Mag sein, dass es sich für manche spannend anhört. Für mich ist das ein Spinner, von dem man sich nicht an der Nase herumführen lassen sollte. Ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen seiner E-Mail und seinem Tod ist für mich nicht erkennbar.“
Gegenüber beugt sich Alexander Stenzel vor. „Das sehe ich anders. Er schreibt: Zuvor habe ich einen wertvollen Schatz versteckt. Also, bevor ihm etwas zustößt, versteckt er lieber diesen Schatz, damit ihn andere nicht finden. Das wäre die Information, die er nicht preisgeben wollte, die für andere jedoch immens wichtig zu sein scheint. Und es scheint jemand anderes zu geben, der diesen ominösen Schatz bei ihm gesucht hat. Und das sehr eindringlich.“
Manfred Schneider gibt sich damit nicht zufrieden. „Kevin Schulte schreibt der Polizei eine E-Mail und gibt Anweisungen, ohne Details zu verraten. Ich kann den nicht ernst nehmen.“
Neben ihm schaltet sich Raja Becker ein. „Er ist tot. Und das nicht durch einen Verkehrsunfall oder Herzinfarkt. Was ist da nicht ernst zu nehmen?“
„Der will einen von uns zu einer Tour durch die Berge schicken. Wie stellst Du Dir das vor?“
Raja Becker blickt wortlos zu Julia, die sich bisher zurückgehalten hat, aber sich nun aufgefordert sieht, ihre Ansicht zu äußern.
„Ich glaube, er hat sich alles durchdacht. Wobei ich nicht weiß, wie weit er seinen eigenen Tod erwartet hat. Suizidäre Anhaltspunkte haben sich nicht ergeben. Aber seine Nachricht hat genaue Zeit- und Ortsangaben. Und dann sein Urlaub, von dem keiner weiß, wo er war. Wir wissen es jetzt: Er war selbst irgendwo in den Bergen und hat sich um seinen Schatz sowie die Spur dorthin gekümmert. Ein ziemlicher Aufwand, wenn es um nichts gehen sollte. Ich nehme das ernst.“