2 Dienstag
2.1 Der Fund
Am Nachmittag des nächsten Tages parkt Julia ihren Wagen vor einem Mehrfamilienhaus, welches in der Seitenstraße eines Wohngebietes von Borken liegt. Zusammen mit ihrem Kollegen Alexander Stenzel verlässt sie das Fahrzeug und geht auf das Gebäude zu. Dies zeigt von außen mit seinen sechs Wohneinheiten keine Besonderheiten, die Bauweise ist funktional und ortsüblich mit zwei Vollgeschossen und Satteldach. Durch ein weiß gefliestes und gestrichenes Treppenhaus gehen beide in das erste Obergeschoss. Ebenso wie ihr Kollege zieht sie sich vor einer weit geöffneten Wohnungstür die Einweghandschuhe über.
Julia ist gerne mit Alexander in Einsätzen unterwegs. In angespannten Situationen behält er seine Ruhe und Gelassenheit. Mit Vergnügen streut er gelegentlich seinen Humor ein, ohne die erforderliche Sachlichkeit zu verlieren. Zufällig ergänzen sie sich in ihrer Kleidung, vorzugsweise locker und leger, in Shirt und Jeans, ohne besonderen Chic oder irgendwelche Auffälligkeiten, abgesehen von kleinen, modebedingten Aufdrucken.
Mit seinem Humor wird er sich bei diesem Einsatz voraussichtlich zurückhalten. Der Notruf über eine tot aufgefundene Person, mit dem sie dorthin gerufen worden sind, kam von einem Nachbarn. Die Tür habe einen Spalt offen gestanden; er habe nachgeschaut und den Bewohner gefunden. Aufgrund seiner Darstellungen im Notruf erscheint ein Tötungsdelikt wahrscheinlich.
In der Wohnung beendet die Spurensicherung ihre Arbeit. Die beiden betreten den kleinen Flur, in dem bis auf eine Garderobe keine weiteren Möbel stehen. Alle weiteren vier Türen zweigen in die verschiedenen Zimmer ab, die ebenfalls alle offen stehen. Sofort links geht es ins Badezimmer, dahinter links ins Schlafzimmer, geradeaus in die Küche sowie rechts in das Wohnzimmer. Julia schätzt die Größe der Wohnung auf 50 qm. Zuerst kommen beide in das längliche Wohnzimmer, in dem auf der rechten Seite eine großflächige, für einen Junggesellen verhältnismäßig ausgedehnte Couchgarnitur aufgestellt wurde, die auf einen Flachbildschirm ausgerichtet ist. Links in dem Zimmer steht ein Schreibtisch mit Glasfläche, die von einem Computerbildschirm mit Tastatur und Maus dominiert wird; der PC befindet sich unter der Arbeitsplatte. Und vor diesem Schreibtisch sitzt eine tote männliche Person auf einem Bürostuhl, in sich zusammengesackt, aber nicht von dem Stuhl gerutscht, weil die Kabelbinder an seinen Handgelenken ihn davon abhalten.
Der Mann trägt sportliche Schuhe, Jeans, T-Shirt und eine dünne Sommerjacke. Seine Statur ist schlank, die Haare sind rot-blond und kurz geschnitten. Schmuck oder eine Armbanduhr sind nicht zu sehen.
Julia stellt sich mit Alexander Stenzel direkt vor ihn. Wie die meisten Kollegen spricht sie ihn nicht mit Alexander, sondern in der Kurzform an. „Alex, Dein Eindruck?“
„Für das Klima in der Wohnung hat er zu viel an. Er trägt weiterhin die Kleidung, mit der er nach Hause kam. Er wurde beim Betreten überrascht oder hat seinen Besuch mitgebracht.“
Julia greift dem Toten in die Jackeninnentasche, zieht diesem sein Portemonnaie heraus. Innen befinden sich Geld und Bankkarte. Demnach sieht es nicht nach einem Raubüberfall aus. Außerdem sind sein Führerschein und ein paar Bonuskarten darin enthalten, schließlich der Personalausweis.
„Sein Name ist Kevin Schulte. 35 Jahre. Die angegebene Anschrift entspricht dieser Adresse. Und das Foto…“ Sie hebt mit der freien Hand vorsichtig an den Haaren den Kopf nach hinten. „… entspricht seinem Gesicht. Da sind Rötungen im Mundbereich, siehst Du?“
„Ja. Sie sind nicht verletzungsbedingt, sondern machen den Eindruck einer bakteriellen Verunreinigung.“ Alexander Stenzel betrachtet alle freien Körperstellen. Bis auf ein paar kleine Hautabschürfungen durch die Reibungen der Kabelbinder an den Handgelenken sind keine äußeren Verletzungen erkennbar. „Nicht, dass ich enttäuscht bin, aber ist es in solchen Fällen sonst nicht so, dass in Folge der unfreiwilligen Befragung jede Menge Folterspuren zu sehen sind und sich die Frage stellt, ob das Opfer zum Zeitpunkt der einen oder anderen Verletzung oder Verstümmelung noch lebte oder schon tot war? Aber der hat ja nichts. Nach irgendeiner Form eines Ritualmordes sieht es ebenfalls nicht aus. Entweder hat er sofort und freiwillig alles geäußert, was von ihm erwartet wurde. Oder er hat sich selbst vorzeitig einer intensiveren Befragung entzogen. Fragt sich, ob er dies tatsächlich aus freien Stücken gemacht hat.“
Hinter ihnen erscheint eine weiterhin in einem weißen Ganzkörperanzug gekleidete Person, die Julia ein Smartphone reicht.
„Wollt Ihr einen Blick darauf werfen, bevor wir es weiter analysieren?“
„Ja, gerne.“ Sie geht einzelne Funktionen durch. „Hier ist etwas auffällig: Die Liste der angenommenen Anrufe ist leer, also gelöscht. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er nie angerufen worden ist. Nach der Liste der getätigten Anrufe ist das Gerät nicht neu. Das müsste rekonstruiert werden.“ Sie navigiert weiter. „WhatsApp wurde gestern noch genutzt, in den letzten Chats sieht es eher nach Smalltalk aus. Das lesen wir später in Ruhe. Die letzte SMS ist ein paar Tage alt. Von seiner Bank die PIN für eine Online-Überweisung.“
Julia verlässt mit Alexander Stenzel das Wohnzimmer. Der Rest der Wohnung gibt nicht viel her. Die Küche ist aufgeräumt; es befindet sich nur etwas gebrauchtes Geschirr auf der Arbeitsfläche. Die beiden Polizisten öffnen alle Schränke, finden nichts Auffälliges. Im Schlafzimmer ein ähnliches Bild, das Bett zwar nicht gemacht, aber sauber. Auch hier in den Schränken keine Besonderheiten, nur allgemeine Eindrücke. Julia bleibt gebannt vor einem Poster mit einer Berghütte, umgeben von einer prächtigen Bergkulisse, stehen. Wahrscheinlich handelt es sich um eine Alpenvereinshütte mit Übernachtungsmöglichkeit für viele Bergwanderer. Es gibt aber keine Anzeichen, welche Hütte das ist oder wo diese sich befindet.
Alexander Stenzel tritt neben sie und folgt eine Weile schweigend ihrem Blick. „Kennst Du das Gebäude?“
Sie schüttelt leicht den Kopf. „Nein, da war ich noch nicht. Kann überall sein. Nicht nur in den Alpen.“
„Gehst Du dieses Jahr noch auf Hüttentour?“
„Weiß nicht. Wird knapp. Ist ja schon August.“
„Fit?“
„Klar, Alex.“
„Joggen?“
„Ja, gestern noch. Und selbst?“
„Ab und zu.“
Julia klatscht ihm schmunzelnd auf den leichten Bauchansatz. Alexander Stenzel weiß diese Geste zu schätzen und einzuordnen. Nicht aufgrund ihres inhaltlichen Zusammenhanges. Vielmehr, weil seine Kollegin zwar höflich und nett ist, aber sonst ausgesprochen distanziert bleibt. Er stuft ihre Berührung daher als Gefühlsausbruch höchster Kategorie ein. Das war es dann, als sie ihn zum Aufbruch drängt. „Na komm, gehen wir.“
Sie schaut noch einmal auf das Poster. Vielleicht ergibt sich der Zufall, dass sie erfährt, welche Hütte das ist. Es wäre ein schönes Etappenziel.
2.2 E-Mail von Kevin
David sitzt zu Hause auf seiner Couch, hat ein Laptop vor sich auf dem Tisch, den Körper nach vorn gebeugt. Er ist unterwegs in den Weiten des Internets. Zusätzlich läuft auf einem Flachbildschirm das Fernsehprogramm mit einer Dokumentation über ein Weltuntergangsszenario beiläufig mit. Er nimmt es nicht wirklich wahr, es dient einzig als Geräuschkulisse. Er starrt auf seinen Bildschirm, auf das, was dort geschrieben steht und abgebildet ist. Von dem mutmaßlichen gewaltsamen Tod seines Freundes Kevin Schulte hat er gelesen. Es ist kein Film, keine Fiktion, sondern Realität. Und diese Meldung lässt keine Zweifel, dass sein Freund, dem er gestern noch begegnet ist, nicht mehr lebt.
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