Das Familiengeheimnis. Peter Beuthner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Beuthner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738093650
Скачать книгу
ermöglicht eine massive Parallelverarbei­tungs­­kapa­zi­tät und damit die „Echtzeitfähigkeit“ des Gesamtsystems. Im Gehirn arbeiten an jedem „Rechen­schritt“ – anders als im Com­puter – Tausende von Neuronen gleichzeitig. Ein dichtes Netz von Ver­bin­dungen ermöglicht die Koordinierung ihrer Aktivität.

      Das Gehirn, der Sitz mentaler Funktionen wie beispielsweise der Wahrnehmung, des Be­wußt­­seins, der Denkfähigkeit, des Ge­dächt­nisses, der Emotionen und des zielgerichteten Ver­­hal­tens, ist ein selbstorganisierendes, offenes, dynamisches System ohne zentrale Kon­trolle. Es ist der Prototyp eines adaptiven Systems in seiner höchst entwickelten Form. Seine Anatomie und funktionelle Archi­­tektur sowohl auf der Ebene einzelner Neuronen als auch größerer Zellverbände, die Funktionseinheiten bilden, aber auch des Nervensystems als Ganzes sind zwar seit langem hinlänglich untersucht und weitgehend bekannt, aber die neu­ro­nale Veran­ke­rung der höheren kog­nitiven Pro­zesse erschloß sich nur sehr lang­sam in kleinen Schritten und ist bisher immer noch nicht voll­stän­dig ergründet. Auch die Tatsache, daß die fortgesetzten Inter­aktionen und wechsel­seitigen Be­einf­­lussungen zwischen Hirn und Umwelt hochkomplexe Rück­kopplungs­effekte be­wirken und zudem die Effektivität der synap­tischen Kontakte – und damit die System­eigen­schaften – dauernd verändern, erschwerte die Forschungsarbeit lange Zeit. Daher war es nicht verwunderlich, daß die kognitiven Leistun­gen des menschlichen Gehirns, insbesondere die Fähigkeit zum Lernen, zur Muster­erken­nung und -verarbeitung, zur ziel­gerichteten Steuerung der Bewegun­gen und zur immer neuen Anpassung an die komplexe, veränderliche Umwelt, selbst mit den leistungsstärksten Supercomputern bis dato allenfalls partiell und näherungsweise erreicht wurden. Aber nicht nur die kognitiven Leistungen des Gehirns, sondern auch seine „Fehlleistungen“, beispiels­weise die Ur­sachen von Nervenkrank­hei­ten wie etwa Parkinson, Alzheimer oder Demenz, und deren Hei­lungs­möglichkeiten waren immer noch nicht hinreichend gut verstanden und daher nach wie vor Gegenstand medizi­nischer Grundlagenforschung. Die größten Schwierig­keiten aber bereitete die – nach wie vor nicht abgeschlossene – Erarbeitung einer wissen­schaft­lich fundierten, empirisch nachprüfba­ren „Theorie des Gehirns“ zum Verständnis von Begriffen wie Bewußtsein, Gedächtnis, Seele, Geist, Emotionen sowie über den Zusammen­hang von Geist und Gehirn, von Bewußtsein und Nervensystem.

      Mit zunehmendem wissenschaftlichen Interesse an Aufbau und Funktion des menschlichen Gehirns schon im 20. Jahrhundert und gefördert durch immer bessere technische Untersu­chungs­­möglichkeiten, bei­spielsweise mit der Elektro- und der Magnetoenze­pha­lo­­gra­phie, der Computertomographie, der Multiphotonenmikroskopie sowie mit Bildgebenden Ver­­­fahren wie der Positro­nen-Emissions-Tomographie, der Single Photon Emission Computed Tomogra­phy und der Funk­tio­nellen Magnetresonanztomographie, haben sich im Laufe der Jahr­zehnte immer mehr wis­sen­schaftliche For­schungsdisziplinen herausgebildet, die unter dem Sammel­begriff ‚Neuro­wissenschaften‘ zu­sam­mengefaßt werden. Dazu gehören unter an­de­ren die Kog­ni­tive Neuro­wissenschaft, Biopsychologie, Neuropsychologie, Neurophysio­lo­gie, Neurobiologie, Kognitions­psy­chologie, Computational Neuroscience, Künstliche Intelligenz (KI) und eben auch die Neuroinformatik, das Arbeitsgebiet von Chan. Zwischen den ein­zel­nen Teil­diszi­pli­nen gibt es mehr oder weniger große Überlappungen, weil sich die Teilaspek­te des kom­plexen Systems „Gehirn“ nicht ohne weiteres eindeutig gegeneinander abgrenzen lassen. Man hatte zwar längst herausgefunden, daß unterschiedliche Informationsformen unabhängig voneinan­der in verschiedenen Gehirnarealen verarbeitet wer­den, deren Lokali­sa­tion man bei­spiels­weise mit den Bildgebenden Verfahren oder bei der Untersuchung von Patienten mit Hirn­läsionen vornehmen konnte. So hatte man zum Beispiel an Patienten mit Gedächtnis­stö­run­gen beim Aus­fall bestimmter Gehirnregionen die verschiedenen Formen des Gedächtnis­ses den ent­sprechen­den Verarbeitungszentren zuordnen können. Aber diese Zuordnungen hatte man zu­nächst nur anhand der Aktivierungsmuster im Sinne erhöhten Energieverbrauchs der „arbei­ten­den“ Areale treffen können. Wie sich die Informations­ver­arbeitung darin im ein­zel­nen ab­spiel­te und wie deren Zusammenspiel in der Koordination aller involvierten Bereiche funk­tio­nier­te, das wußte man damit noch lange nicht. Denn fast immer sind mehrere Funktions­­bereiche des Gehirns bei der Informationsverarbeitung invol­viert: So werden etwa die von den Sinnesorganen aufgenommenen Informationen bei der Weiterverarbeitung im Gehirn in klei­ne­re Einheiten zerlegt, an unterschiedlichen Stellen ge­trennt verarbeitet, das heißt ver­stärkt, ab­ge­schwächt oder bewertet, und dann in verschie­denen Gehirnarealen wieder zusam­men­ge­führt. Daher arbeiten die Forscher der einzelnen Spezialdisziplinen zumeist in interdiszi­pli­nären Teams zusammen.

      An der Universität Ulm, die mit ihrer interdisziplinären und kooperativen Arbeitsweise zahl­reiche Forschungsschwerpunkte und Sonderforschungsbereiche sowohl in der Grundlagen­forschung als auch in der angewandten Forschung etablieren und erfolgreiche Ergebnisse erzielen konnte, war schon gegen Ende des 20. Jahrhunderts ein Institut für Neuro­informatik etabliert und in den Folgejahren um weitere Institute im Kontext der Neuro- und Kognitions­wissenschaften ergänzt worden. Hier war nun Chan als Dozentin für Neuroinformatik tätig, seit sie in Deutschland lebte. Neben ihrer Lehrtätigkeit lag der Schwerpunkt ihrer Beschäf­tigung vor allem in der Forschungsarbeit. Neuronale Methoden werden vor allem bei der Gewin­nung von Informationen aus schlechten oder verrauschten Daten eingesetzt, aber auch bei der Gene­­rierung von Algorithmen, die sich neuen Situationen anpassen, also lernen. Daher lag es nahe, daß ihre Aufgabe in der interdisziplinären Arbeitsgruppe „Kogni­tive Neuroinfor­matik“ schwer­punktmäßig darin bestand, höhere kognitive Fähigkei­ten, wie das auto­ma­tische Lernen von neuem, die Verarbeitung und Repräsentation von un­siche­rem Wissen sowie das Ziehen von Schluß­folgerung zu untersuchen. Zusammen mit ihren Kollegen von der KI-Forschung arbeitete sie an der Weiterentwicklung von Maschinen, die sich im Ergeb­nis „intelligent“ verhal­ten. Insofern ergänzte sich ihre berufliche Tätigkeit ganz ausgezeichnet mit den Ro­boter­ent­wick­lungen ihres Mannes.

      Der Tagesablauf bei der Arbeit von Chan gestaltete sich ganz unterschiedlich, je nachdem ob sie eine Vorlesung halten, praktische Experimente ihrer Studenten im Labor beaufsichti­gen, Prü­fun­gen abnehmen, an Seminaren oder Symposien teilnehmen, Verwaltungs­aufga­ben wahr­­neh­men mußte oder ob sie sich ganz ihrer Forschungstätigkeit widmen konnte. Letzte­res machte sie besonders gerne, und darin sah sie auch ihre Hauptaufgabe. Vor­lesungen be­trach­tete sie eher als Pflichtübung und Verwaltungsaufgaben sogar als lästig. Die Arbeit im interdisziplinären For­schungs­team, der Erfahrungsaustausch mit Kollegen, aber auch das gemeinsame Experimen­tier­en mit ihren Studenten im Labor, das waren ihre bevorzugten Tätigkeiten. Sie entsprachen ihrer kooperativen und wißbegierigen Art. Lernen von den an­de­ren und eigenes Wissen an ande­re weitergeben, das war ihre Devise.

      Aber natürlich nahm sie auch ihre anderen, weniger geliebten Aufgaben gewissenhaft wahr. Ihre Vorlesungen waren immer bestens in Form von Computer-Präsentationen und Ver­suchs­­­demonstrationen aufbereitet. Wie inzwischen allgemein üblich, wurde jede Vorlesung im Hör­saal auf einem Großdisplay präsentiert, während der oder die Lehrende am Podium steht und jederzeit die Präsentation unterbrechen kann, um auf Fragen von Studenten unmit­tel­bar erklä­rend eingehen und gegebenenfalls auch Diskussionen zur Thematik führen zu können. Es war also kein Frontalunterricht im herkömmlichen Sinne, keine „Vor-Lesung“ im wörtlichen Sinne, sondern eigentlich eher ein meist leb­haf­tes Wechsel­gespräch zwischen Lehrenden und Ler­nen­den anhand der anschaulich präsentier­ten Vorlagen. Während in früheren Zeiten die Stu­den­ten häufig durch öde Monologe die Kon­zen­­tration verloren und über­dies vornehmlich damit beschäftigt waren, das teilweise unleser­liche Tafelgekritzel der Professoren abzuschreiben, um sich später zu Hause nochmal mit dem Stoff auseinander­setzen zu können, konnten sie sich jetzt voll auf die Inhalte konzentrieren und entstehende Fragen sofort an Ort und Stelle klären. Wenn sie jetzt aus der Vorlesung gingen, dann hatten sie den Stoff verstanden und mußten zu Hause nicht noch nacharbeiten.

      Alle Präsentationen wurden ins „Netz“ – ins WorldNet – gestellt, und jeder eingeschriebene Student konnte, wenn er wollte, sie auch später jederzeit nochmal aufrufen und am Com­puter dar­stellen.