Das Familiengeheimnis. Peter Beuthner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Beuthner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738093650
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der Länder stritten sich über Jahrzehnte um teilweise lächerliche Lappalien – bloß keine Vereinheit­lichung! Oh, ich darf mir das gar nicht weiter ausmalen, sonst kriege ich jetzt noch Zu­stände!“

      „Naja, das ist ja nun, Gott sei Dank, heute schon alles viel besser“, versuchte Ellen die Schimpf­­kanonade ihres Mannes zu stoppen. „Und es lag ja auch nicht allein an den Poli­tikern. Selbst in den Schulen müssen zum Teil ziemlich frustrierende Zustände ge­herrscht haben. Die Lehrer hatten keine Autorität mehr. Die Schüler sind ihnen förmlich auf der Nase rum­ge­tanzt, zum Teil haben sie sie sogar bedroht. Und mancher durchgeknallte Schüler hat sogar einige seiner Mitschüler und Lehrer erschossen – furchtbare Zustände. Ich kann mich noch gut an die Erzählungen meiner Eltern von ihrer Schulzeit erinnern, und selbst in meinen ersten Schuljahren waren die Verhältnisse ja auch noch ziemlich unbe­friedigend. Also in dieser Zeit hätte ich kein Lehrer sein mögen!“

      „Glücklicherweise hat sich das ja nun erledigt“, sagte Klaus und beruhigte sich langsam. „Es hat lange gedauert, aber sie haben es letztlich doch noch hingekriegt – unsere Politiker, europaweit!“

      „Glücklicherweise, ja“, pflichtete Ellen ihm sofort bei und nutzte gleich die Gelegenheit, die negative Beschreibung des alten Zustandes endlich abzubrechen und das Thema aus einer positiveren Sicht zu betrachten: „Glücklicherweise ist das alles Schnee von gestern. In­zwischen herrscht ein völlig anderes Klima an den Schulen. Das ganze Schulsystem ist sehr verbessert worden!“

      Ellen schien gerade erst richtig zu weiteren Erläuterungen aus­holen zu wollen, als Klaus sie unterbrach: „Entschuldige mal, macht es euch was aus, wenn wir beiden“, und er meinte Qiang und sich, „uns noch ein bißchen in die Ecke zurück­ziehen? Ich habe da noch ein paar tech­nische Fragen an Qiang.“

      „Nein, nein. Geht ihr nur“, erwiderte Ellen, „wir kommen schon allein zurecht.“

      Mit dem Essen war man ohnehin schon längst fertig, und die Kinder hatten sich bereits vor längerer Zeit in ihren Hobbyraum zurückgezogen.

      „Weißt du“, nahm Ellen den Faden wieder auf, nachdem sich die Männer verzogen hatten, „das Bildungssystem ist so ein ‚Lieblingsthema’ bei uns. Für mich sowieso, denn für mich ist es Profession, und für Klaus ist es immer wieder ‚ein gefundenes Fressen’, sich über die Unfähigkeit der politischen Klasse zu mokieren.“

      „Ja, scheint ihm Freude zu machen.“

      „Freude? Nein, das kann man eigentlich nicht behaupten, wenn es vielleicht auch manchmal den Anschein haben mag. Im Grunde ärgert es ihn eher. Er hat ja auch geschäftlich sehr viel mit Politikern zu tun – zwangsläufig. Aber da kommt er oft enttäuscht oder gar deprimiert zurück. Und trotzdem muß er dabei immer noch gute Miene zu den hohlen Phrasen einiger aufgeblasener Wichtigtuer machen, obwohl ihm so etwas eigentlich gar nicht liegt. Er vertritt viel lieber ganz offen seine ehrliche Meinung. Naja, und da bietet sich das Thema Schul­politik, in dem sich gleich mehrere Politikergenerationen bei uns in stümperhafter Weise ver­sucht haben, für ihn gewissermaßen als Ventil an, um Luft abzulassen, weißt du?“

      „Ja, ja, verstehe.“ Chan lächelte. Und als wenn sie das Gefühl hatte, dies erklären zu müs­sen, fügte sie bestätigend hinzu: „Wir haben viel Verständnis dafür, glaub´ mir. Auch mit unseren Politikern ist es oft alles andere als lustig. Aber schließlich und endlich seid ihr mit eurem Bildungssystem in Europa ja nun doch zu einem guten Ergebnis gekommen.“

      „Das will ich nicht bestreiten“, stimmte Ellen zu. „Es hat halt nur alles viel zu lange gedauert. Das hätten wir – in Deutschland zumindest – schon 100 Jahre früher haben können.“

      „Sagt ihr in Deutschland nicht auch ‚Gut Ding will Weile haben’?“

      „Ja, schon. Das ist so ein Sprichwort und wird gern als Entschuldigung für Nichtstun be­nutzt.“

      „Letztlich kommt es auf das Ergebnis an, und da muß ich sagen, daß euer Ausbil­dungs­system wirklich hervorragend ist“, sagte Chan bestimmt. „Unsere Kinder fühlen sich sehr wohl hier und lernen eine Menge – mit Freude! Und darüber sind wir sehr froh, denn in China hätten sie es wahrscheinlich etwas schwerer.“

      „Ach, eure Kinder sind doch so intelligent! Warum sollten sie es in China schwerer haben?“ wollte Ellen wissen.

      „Das liegt im System begründet. Dort herrscht im Grunde Drill und harter Konkurrenzkampf! Und das ist nicht unbedingt förderlich für empfindsame Naturen.“

      „Ja, ich erinnere mich, daß du schon mal etwas darüber erzähltest“, antwortete Ellen.

      „Bei der Gelegenheit fällt mir übrigens gerade ein, daß wir demnächst Herrn und Frau Li aus Beijing zu Besuch bei uns haben. Er ist Professor für Synthetische Biologie und wird hier auf unserem Kongreß in zwei Wochen einen Vortrag halten. Und er wird seine Frau mitbringen – eine Pädagogin, wie du.“ Dabei schaute sie Ellen an. „Es sind sehr nette Leute. Wir kennen sie schon seit geraumer Zeit. Wenn du Lust hast, lade ich euch zum Kaffeekränzchen ein. Dann könnt ihr euch ein bißchen über die Ausbildungssysteme austauschen. Was hältst du davon, Ellen?“

      „Das ist eine sehr nette Idee. Wann wäre das denn?“

      „Freitag oder Samstag in 14 Tagen wäre gut.“

      „Ich glaube, das könnte passen. Ich schaue gleich mal nach“, antwortete Ellen. Und mit einem ver­schmitzten Blick zu den Herren sprach sie betont laut, so daß die Herren es in ihrer Ecke gar nicht überhören konnten: „Oder ginge vielleicht auch der Donnerstag? Da haben die Her­ren ja abends ihren Stammtisch, da könnten wir also ungeniert und ungestört lange plaudern.“

      Und prompt kam die Antwort von Klaus, der dabei Qiang mit einem vielsagenden Blick zu­zwin­kerte: „Hört, hört! Kaum ist der Kater aus dem Haus, da tanzen auch schon die Mäuse auf dem Tisch!“

      Allgemeines Gelächter.

       Inzwischen war es spät geworden. Die Männer unterhielten sich immer noch im Wohn­zimmer über allerlei geschäftliche Belange, und die Frauen saßen inzwischen im Winter­garten bei einer Tasse Tee und tauschten jede Menge Informationen über das ganze Themen­spektrum des alltäglichen Lebens aus – wie Frauen das halt so zu tun pflegen. Sie kamen von Höcksken auf Stöcksken, wie man im Norddeutschen zu sagen pflegt.

      „Jetzt ist das Jahr auch schon gleich wieder herum“, stöhnte Ellen. „Die Zeit rast nur so dahin! Ich habe den Eindruck, daß es von Jahr zu Jahr schneller geht. Empfindest du das auch so?“

      „Ja, . . .“, bestätigte Chan nachdenklich, „die Tage fliegen wirklich nur so vorbei.“

      „Ja, wirklich! Ich ertappe mich immer öfter bei dem Gedanken: Augenblick, verweile doch! Du bist so schön! – frei nach Goethes ‚Faust‘, weißt du? Ich möchte manchmal die Zeit anhal­ten. Aber sie rinnt erbarmungslos immerfort, die Augenblicke vergehen im Nu, und beson­ders die schönen Augenblicke!“

      „Der Augenblick, das ist das, was wir landläufig als ‚Gegenwart‘ bezeichnen. Das ist nur ein kurzer, drei Sekunden langer Zeitabschnitt, in dem unser Gehirn alle Ereignisse bündelt, wie Hirnfor­scher herausgefunden haben.“

      „Wie? Unsere Gegenwart ist nur ein Drei-Sekunden-Zeitraum?“

      „Für unser Gehirn ist das so, ja. Das hängt mit seiner Kapazität und Organisation der Infor­ma­tionsverarbeitung zusammen. Stell dir nur mal vor, wie viele Informationen ständig über unsere unterschiedlichen Sinnesorgane in unser Gehirn einströmen. Es würde sehr schnell zu einer Reizüberflutung kommen, wenn das Gehirn jedes Informationsdetail in Echtzeit analysieren, bewerten und kontextuell zuordnen müßte. Damit wäre es total überfordert, denn dafür ist es nicht ausgelegt. Aber es weiß sich zu helfen: Es faßt alle Sinnesreize eines Zeit-Intervalls von 20 bis 40 Millisekunden zu einem Moment ohne Zeit zusam­men, arbeitet also gewissermaßen getaktet. Die Hirnforscher haben herausgefunden, daß die Schwelle, ab der zwei Ereignisse als getrennt erkannt werden, vom jeweiligen Sinnesorgan abhängig ist. So müssen beim Menschen optische